Zu viel Zivilisation?
In der modernen Gesellschaft verlieren Menschen ihre Kommunikationsfähigkeiten, sie werden einsam und krank.

Es gibt in der Philosophiegeschichte zwei grundsätzliche Positionen hinsichtlich der Frage nach der Auswirkung der Zivilisation auf das Wesen des Menschen. Mit Thomas Hobbes argumentieren jene, welche der Meinung sind, dass der Mensch von Natur aus böse ist und nur durch die strengen Regeln der Zivilisation im Zaum gehalten werden kann. Mit Jean-Jacques Rousseau hingegen argumentieren diejenigen, die der Meinung sind, dass der Mensch von Natur aus gut ist und erst die Strenge der Zivilisation böse Auswüchse in uns hervorbringt. Schützt die moderne Zivilisation uns nun also vor den dunklen Seiten des Menschen oder bringt diese die dunklen Seiten erst zu Tage? Würde es zum Beispiel noch mehr Kriege geben, wenn wir weniger zivilisiert leben würden, oder führt die zivilisierte Lebens- und Denkweise unweigerlich zu Besitzansprüchen und Krieg? Ich denke, es ist wichtig, bei dieser Frage nicht in eine allzu romantische Vorstellung unserer anzestralen Vergangenheit zu verfallen, gleichzeitig aber auch die Errungenschaften der Moderne nicht zu sehr zu glorifizieren. Wir können nicht beweisen, ob Hobbes oder Rousseau recht hat, aus meiner Sicht ist es vielmehr eine Glaubensfrage. Oder gar eine Entscheidung, was wir glauben wollen. In welcher Welt, in welchem Narrativ wir leben wollen.
Der reale Herr der Fliegen
Ich persönlich glaube nicht, dass die zivilisatorischen Errungenschaften die „böse Natur“ des Menschen zähmt. Sondern ich glaube, dass der Mensch gut ist. Oder: Dass es einfach gut ist, dass er ist. Dass Menschen in der „Wildnis“ barbarisch werden und sich alle gegenseitig umbringen, ist meiner Meinung nach eine Erzählung, die nicht realistisch ist. Offenbar lauschen viele Menschen aber gerne einer solchen Erzählung, wie etwa der Erfolg des Romans “Herr der Fliegen” von William Golding exemplarisch zeigt. Die Geschichte handelt von einer Gruppe Kinder und Jugendlicher, die auf einer einsamen Insel stranden und immer mehr verrohen, bis sie schliesslich einzelne Gruppenmitglieder töten. Der Roman avancierte in den USA zum “Kultbuch” und viele Leser waren der Meinung, dass hier eine realistische Darstellung über die wilde und böse Seite der menschlichen Natur geboten werde. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet ist die Geschichte aber lediglich ein Abbild des pessimistischen Menschenbildes eines Autors, der Alkoholiker war und zu Depressionen neigte. Sollen wir hier also dem Autor glauben, dass er eine realistische Geschichte erfunden hat oder vielleicht besser in der realen Welt nachschauen, ob sich ähnliches tatsächlich schon einmal so zugetragen hat?
Der Historiker Rutger Bregman hat sich dieser Frage angenommen und machte sich während der Recherche für sein Buch “Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit” auf die Suche nach einer realen Begebenheit, in der eine Gruppe Jugendlicher auf einer einsamen Insel strandete. Er fand einen Bericht über sechs Schüler, die 1965 in einen Sturm gerieten und danach 15 Monate allein auf einer Insel im Pazifik lebten, bis sie von einem Fischerboot per Zufall entdeckt und gerettet wurden. Sie waren bei guter Gesundheit und hatten auf der Insel überlebt, indem sie miteinander kooperiert und Streitigkeiten konstruktiv gelöst haben. Sie haben sich also ganz anders verhalten als die Jugendlichen in Goldings Roman.
So wie Bregman denke auch ich, dass die Erfahrung der Jugendlichen, die auf der einsamen Insel im Pazifik kooperieren, viel eher dem Wesen des Menschen entspricht als die pessimistische Darstellung mit Mord und Totschlag in der Geschichte von “Herr der Fliegen”. Interessanterweise hat das reale Ereignis damals aber niemals so hohe Wellen geschlagen, wie der Roman “Herr der Fliegen”, obwohl beide nur wenige Jahre auseinanderliegen. Mord und Totschlag verkauft sich wohl einfach besser?
Was Paul über Peter sagt…
Da ich die Frage spannend finde, wie wir in unserem Zusammenleben nach einem Zusammenbruch der Gesellschaft weitermachen würden, finde ich Geschichten in einem postapokalyptischen Setting sehr interessant. Leider dominiert jedoch auch hier zumeist das Narrativ von Macht, Mord und Totschlag, so dass ich Serien wie “The 100” oder “The Walking Dead” nach verheissungsvollem Auftakt irgendwann nicht mehr ertragen habe. Weshalb müssen diese Serien immer so brutal werden und derart kranke, blutrünstige Menschen porträtieren? Würde es wirklich so schlimm werden, wenn die Zivilisation zerfallen würde?
Diese Darstellungen sagen meiner Meinung nach wenig über die wirkliche Natur des Menschen aus, dafür aber umso mehr über die kulturelle Brille der Autoren, die diese Geschichten erdacht haben. In solchen Situationen muss ich immer an folgenden Satz von Baruch de Spinoza denken: “Was Paul über den Peter sagt, sagt mehr über den Paul aus als über den Peter”. Auf das vorliegende Szenario übersetzt: Wenn ein Autor über die Natur des Menschen schreibt, dann erfahren wir mehr über den Autor als über die Natur des Menschen. Das entkräftet einerseits die pessimistische Sichtweise der oben genannten Bücher und Serien, gilt andererseits selbstverständlich aber auch für meine eigenen Zeilen hier. Daher möchte ich versuchen, meine Sichtwiese, dass die moderne Zivilisation nicht der schützende Rand für den Menschen darstellt, sondern vielmehr die Menschen an den Rand treibt, noch aus ein paar anderen Perspektiven zu betrachten.
Welches Leben ist artgerecht für den Homo Sapiens?
Zum Beispiel könnten wir uns anschauen, wie das Leben von Menschen aussieht, welche auch im 21. Jahrhundert noch fernab der modernen Zivilisation leben. Es gibt viele spannende Berichte über indigene Völker und deren Lebensweise, so zum Beispiel auch im Buch “Auf Spurensuche nach Natürlichkeit” des Wildnispädagogen Bastian Barucker. Besonders interessant bei Barucker finde ich, dass er nicht nur über indigene Völker aus einer externen Perspektive schreibt, sondern auch selbst mehrmals länger in der Wildnis gelebt hat. Sein längster Wildnisaufenthalt dauerte ein ganzes Jahr. Das Fazit aus Baruckers Wildniserfahrung: das Funktionieren als Gruppe ist die wichtigste Wildnisfertigkeit überhaupt. Nicht Feuermachen, nicht Jagen oder Unterkünfte bauen ist diejenige Fertigkeit, die einer Gruppe das Überleben sichert, sondern die Fähigkeit, Konflikte konstruktiv zu lösen und offen miteinander zu kommunizieren. Mit anderen Worten: Wenn eine Gruppe nicht kooperiert, Probleme nicht gemeinsam lösen kann und generell schlecht miteinander kommuniziert, dürfte sie nicht lange überleben.
In Jäger- und Sammler-Gemeinschaften, die meist aus 50 bis 150 Menschen bestanden, war es unabdingbar, dass jede Person sich im Rahmen ihrer Talente einbrachte und damit zum Weiterbestehen der Gruppe beitrug. Es wird davon ausgegangen, dass diese Gruppen keine formalen Anführer hatten und Statusunterschiede innerhalb der Gruppe relativ gering waren. Somit dürften auch die Machtspiele in den postapokalyptischen Filmen und Serien nicht wirklich ein Abbild eines “Naturzustandes” sein, sondern eben vielmehr ein Abbild unserer heutigen Kultur, aus deren Perspektive diese Geschichten erzählt wurden. Wobei wir meiner Meinung nach auch vorsichtig umgehen sollten mit dem Begriff “Naturzustand”, weil unklar ist, was das überhaupt bedeutet und welche Relevanz ein solch ursprünglicher Zustand für das heutige Leben noch haben könnte.
Ich finde in diesem Zusammenhang jedoch die Frage zentral, was für uns Menschen, für den Homo Sapiens eigentlich ein “artgerechtes Leben” wäre. Wenn man bedenkt, dass der Mensch während 99% der Zeit seiner Entwicklung in kleinen Verbünden gelebt hat und grosse menschliche Gesellschaften erst im letzten Prozent der Menschheitsgeschichte entstanden sind, dürfte diese historische Perspektive durchaus eine Relevanz haben für unser heutiges Leben. Und dies zwar insofern, als dass sich die technologische und gesellschaftliche Entwicklung vor allem in den letzten 150 Jahren viel schneller vollzogen hat als unsere psychologische Entwicklung. Es gibt verschiedene Anzeichen darauf, dass unsere Psyche immer noch zu einem grossen Teil von diesen ersten 99% der Menschheitsgeschichte geprägt ist. In der Evolutionspsychologie ist hierbei die Rede von der “Mismatch-Theorie”.
Ein solcher Mismatch könnte zum Beispiel darin bestehen, dass wir während Jahrtausenden in engen sozialen Gruppen gelebt haben, während wir heute aufgrund moderner Technologien und industrialisierter Lebensmittelproduktion nicht mehr auf solch enge soziale Strukturen angewiesen sind. Dass Menschen im Zeitalter von Sozialen Medien immer einsamer werden, darüber habe ich bereits in einem früheren Text geschrieben. Es erscheint paradox: Es gibt so viele Menschen wie noch nie auf der Welt - und diese fühlen sich einsam wie noch nie. Die Anzahl enger Freundschaften nimmt in der Tendenz ab, wie beispielsweise Erhebungen bei US-Amerikanern zwischen 1990 und 2021 zeigt (siehe Grafik).

Ein 21-jähriges “Tech-Wunderkind” hat kürzlich eine mögliche Lösung gegen diese “Einsamkeitsepidemie” vorgestellt: Eine Halskette, der man sein Herz ausschütten kann. In der Halskette wohnt eine künstliche Intelligenz, die als Gefährte für einsame Menschen angepriesen wird. Der Name der Halskette, bezeichnenderweise: Friend. In einem irritierenden Werbevideo werden Menschen gezeigt, die mit ihrem KI-Friend Wandern gehen oder zu Mittag essen. Die KI antwortet im Dialog der beiden “Freunde” per SMS, die Menschen sind glücklich. In der Luzerner Zeitung äussert sich Orlando Budelaccci, ein auf KI spezialisierter Ethiker und Dozent am KI-Studiengang an der HSLU, kritisch über diese neue Erfindung: „Einsame Menschen flüchten sich in Maschinen - und werden noch einsamer.“ Dass wir versuchen, durch Technologieeinsatz das Einsamkeitsproblem zu lösen, ist aus meiner Sicht ein Ausdruck der oben dargestellten Mismatch-Theorie. Die moderne Technologie hilft dem Menschen nicht in seiner Einsamkeit - die moderne Technologie führt den Menschen in die Einsamkeit.
Natürlich erfordert unser modernes Leben nicht mehr zwingend die von Barucker beschriebene “Wildnisfähigkeit”, als Gruppe gut zu funktionieren. Aber wir sind immer noch gemeinsam für unser Überleben auf diesem Planeten verantwortlich und es ist ja nicht so, dass wir hierbei keine grossen Herausforderungen vor uns hätten.
Kulturpflanzen verlieren ihre Kommunikationsfähigkeiten
Interessanterweise finden wir Hinweise darauf, dass in der modernen Lebensweise Menschen nicht mehr gut miteinander kommunizieren können, nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der Biologie. Es scheint nämlich nicht nur uns Menschen so zu ergehen, sondern auch Pflanzen stumpfen anscheinend immer wie mehr ab und verlieren die Fähigkeiten, mit ihren Artgenossen zu kommunizieren. Was vielen Menschen nicht bewusst ist: Bäume kommunizieren einerseits über die Wurzeln und damit verbundene Pilznetzwerke miteinander und andererseits auch durch die Luft, indem sie über ihre Blätter gasförmige Moleküle ausschütten. Gesunde Bäume sind resonanzfähig, sie können gemeinsam klingen und kommunizieren. Dies ist für ihr Überleben wichtig, da sie sich auf diese Art und Weise vor Gefahren warnen können. Peter Wohlleben erzählt in seinem Buch “Das geheime Leben der Bäume” beispielsweise davon, wie sich in Afrika Bäume gemeinsam gegen Giraffen wehren. Wenn Schirmakazien merken, dass an ihnen geknabbert wird, dann pumpen sie Gift in die Blätter, worauf die Giraffen wieder von den Blättern ablassen. Unterdessen haben die benachbarten Bäume die Nachricht bereits erhalten, dass Giraffen da sind und haben ihrerseits Gift in ihre Blätter geschickt. Da die Giraffen dies wissen, lassen sie von dieser Baumgruppe ab und ziehen ein paar hundert Meter weiter.
Gemäss dem italienischen Pflanzenneurologen Stefano Mancuso von der Universität Florenz verlieren nun aber immer mehr Arten von Kulturpflanzen zusehends diese Fähigkeiten. Sie können keine Duftstoffe mehr aussenden und auch die Alarmrufe ihrer Artgenossen nicht mehr verstehen. Sie können nicht mehr mit Artgenossen kommunizieren, wurden also stumm und taub gezüchtet.
Lässt sich da in der Pflanzenwelt beobachten, wie es zunehmend auch uns Menschen ergeht? In der NZZ am Sonntag wurde kürzlich erneut darüber berichtet, wie einsame Menschen nicht nur psychisch, sondern auch körperlich eher krank werden. Trotz der ständigen Verfügbarkeit von sozialen Medien und der technologischen Möglichkeit, sich jederzeit mit jedem Menschen auf der Welt zu verbinden, sind Menschen zunehmend einsamer. Sind also auch beim Homo Sapiens in seinem Werden zur „Kulturpflanze“ die Fähigkeiten, sich mit Artgenossen zu verbinden, zunehmend abgestumpft?
Im Pflanzenreich sieht es danach aus, dass die Entartung der Kulturpflanzen in nächster Zeit eher noch weiter zunehmen dürfte. Seit einiger Zeit sind immer wieder Berichte über Hydrofarmen zu lesen, in denen Salate und Gemüse ohne Kontakt zur Erde fabrikmässig in Wasserbehältern produziert werden können. Was als innovativ und fortschrittlich dargestellt wird, stimmt mich nachdenklich: Was passiert mit einer Pflanze, die keinen Kontakt mehr zur Erde hat, die kein echtes Sonnenlicht mehr kennt, den Wind nicht mehr spürt, keinen Besuch von Insekten erhält? Ich stelle mir vor, dass diese Pflanzen niemals denselben Nährstoffgehalt aufweisen können, wie im Boden und am Sonnenlicht kultiviertes Gemüse. Wobei mit „Nährstoffgehalt“ ja auch nur das beschrieben wird, was wir mit unserer aktuellen Technologie messen können. Wahrscheinlich fallen die Nährstoffe bei Hydrokulturen diesbezüglich auch gar nicht unbedingt ab. Aber was ist mit der Lebenskraft und Vitalität, die wir von Pflanzen aufnehmen können, wie werden die Hydrokulturen da abschneiden? Wer schon einmal frisches Gemüse direkt aus dem Garten gegessen hat oder gesammelte Wildkräuter direkt am selben Tag gekocht hat, der kennt vielleicht dieses Gefühl, die Vitalität und die Kraft der Natur förmlich in sich aufzunehmen. Ich glaube nicht, dass es Einbildung ist, dass uns Wildkräuter oder frisches Gartengemüse beim Verzehr kraftvoller erscheinen als industriell produziertes Gemüse aus grossen Gemüsefarmen. Wenn wir bereits hier einen Unterschied festmachen können, dann ist aus meiner Sicht klar, dass dieser Unterschied bei zukünftigen Hydrokulturen noch einmal grösser ausfallen dürfte. Meiner Meinung nach werden diese Pflanzen zu sehr von ihrer natürlichen Art und Weise zu wachsen entrückt. Oder mit anderen Worten: Sie werden nicht mehr wirklich artgerecht gehalten.
Wenn gemäss Stefano Mancuso bereits in herkömmlich gezogenen Arten von Kulturpflanzen die Eigenschaft, sich mit anderen Artgenossen zu verbinden, abhanden geht, wie werden hier wohl in Hydrofarmen produzierte Pflanzen abschneiden? Und was ist eigentlich das menschliche Äquivalent der dem Boden und natürlichem Licht entzogenen Pflanzen? Sind es die vielen Arbeitsplätze in riesigen Shoppingzentren ohne Tageslicht? Oder die Wohnungen in immer höher werdenden Gebäuden? Oder dass so viele Menschen keinen Zugang mehr haben zu einem eigenen Garten, geschweige denn zu einem naturbelassenen Wald? Oder dass wir zunehmend in “sozialen” Medien vereinsamen?
Kontrolle über das “Wilde”
Die Vorstellung, dass die moderne Zivilisation besser ist für den Menschen, als ein wilderes, naturnahes Leben, drückt sich meiner Meinung nach auch darin aus, dass seit Jahrhunderten alles Wilde verteufelt wird. Die Kolonialisten betrachteten die indigenen Völker als “Primitive”, nomadische Völker wurden ausgegrenzt und verfolgt und sowohl früher wie heute immer wieder ein beliebtes Motiv: Der “böse Wolf” oder der “Problembär”. Ich denke, die Abneigung gegen diese Stellvertreter für das “Wilde” kommt daher, dass diese sich der Kontrolle widersetzen, welche die moderne Gesellschaft über die Natur ausüben möchte. Das Wilde, das Unkontrollierte erscheint für die Moderne bedrohlich, weil es einen Gegenentwurf darstellt und wie in einem Glaubenskrieg muss die andere Position bekämpft werden. Weil es nicht sein kann, dass die eigene Position auch falsch sein könnte. Auch in der Schweiz hat dies zu schrecklichen Handlungen geführt, als jenischen Familien die Kindern zwecks Umerziehung und „Kultivierung“ weggenommen wurden (siehe „Kinder der Landstrasse”). Das erinnert an den Umgang der nordamerikanischen Siedler mit den First Nations der heutigen USA oder an das Schicksal der Samen im Norden Skandinaviens.
Aus einer historischen Perspektive betrachtet ist es einmalig, dass alle Menschen auf die gleiche Art und Weise leben sollen. Der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow haben in ihrem Buch “The Dawn of Everything. A New History of Humanity” (auf Deutsch: “Anfänge”) aufgezeigt, dass es früher eine grosse Vielfalt verschiedener Gesellschaftsformen gab. So gab es etwa bei indigenen Völkern nicht nur nomadische Stämme, sondern eine Vielzahl von verschiedenen Systemen, die sich vor allem durch ihre Flexibilität massgeblich von heute unterscheiden. Beispielsweise beschreiben Graeber und Wengrow Völker, die im Sommer nomadisch lebten und im Winter sesshaft oder andere haben zwischen autoritären und kommunalen politischen Systemen hin und her gewechselt. Die zentrale Frage aus ihrer Sicht ist somit nicht, weshalb wir heute alle sesshaft leben, sondern weshalb wir die Flexibilität und politische Kreativität in unserer Gesellschaft verloren haben, die einst so üblich war. Nach Graeber und Wengrow sind wir auf einem Entwicklungspfad steckengeblieben und haben Gewalt und Herrschaft innerhalb des vorherrschenden Systems normalisiert. Aber: Das müsste historisch betrachtet eben nicht zwingend so sein.
Abtrennung von der eigenen Umgebung
Mein Eindruck ist, dass früher in den Gesellschaftssystemen vor allem daher eine grössere Flexibilität gelebt wurde, da die früheren Lebensformen viel stärker mit ihrer unmittelbaren Umgebung verbunden waren und daher notwendigerweise flexibel sein mussten in Anbetracht der Abhängigkeit von natürlichen Zyklen und Rhythmen. Dass ein Grossteil der Menschheit heute weltweit in einem System lebt, dass starr ist und sich auf dem ganzen Planeten immer wie mehr angleicht, hat aus meiner Sicht damit zu tun, dass wir in einem globalisierten Wirtschaftssystem nicht mehr auf lokale Gemeinschaften und die unmittelbare Umgebung angewiesen sind.
Zumindest wir in westlichen Gesellschaften können jederzeit die Früchte und Gemüse kaufen, nach denen es uns gerade gelüstet, praktisch unabhängig vom saisonalen Früchte- und Gemüse-Kalender. Oder wir kaufen Konsumgüter, die sehr weit weg von uns hergestellt wurden, ohne Rücksicht auf die benötigten Ressourcen oder ohne Kenntnis der prekären Arbeitsbedingungen vor Ort. Immer wie häufiger tun wir das auch im Internet und müssten also eigentlich vor allem in den Städten nicht einmal mehr das Haus verlassen. Arbeiten im Home-Office, Essen “bequem” nach Hause liefern lassen, am Abend chillen mit Netflix, Insta und Tiktok checken, noch ein wenig Pornos gucken und dann ins Bett. Was klingt wie aus einem Schauermärchen, ist längst für viele Menschen Realität - und von unserem Wirtschaftssystem sogar erwünscht. Eine befreundete Psychotherapeutin hat einmal von einer jungen Klientin erzählt, die ihr geschildert hat, wie sie an der Kantonsschule eigentlich den ganzen Tag nur am Bildschirm sei. Der Unterricht finde am Computer statt, in der Pause schauen alle aufs Handy und dann geht es wieder weiter am Computer. Während der Pandemie habe ich dazu passend folgenden Spruch gelesen:
„Wir arbeiten den ganzen Tag am mittelgrossen Bildschirm, am Abend erholen wir uns vor dem ganz grossen Bildschirm und vor dem Schlafengehen entspannen wir uns noch ein wenig mit dem ganz kleinen Bildschirm.“ (Quelle unbekannt)
Und da wundern wir uns noch, dass so viele Menschen vereinsamen?
Empfehlungen aus der Evolutionspsychologie
Ich bin fest der Überzeugung: Wir dürfen den Kontakt zum Lebendigen, zur Erde, zu unserem Ursprung nicht verlieren, wenn wir gesund bleiben wollen. Technologie kann zwar hilfreich sein, aber bei zu viel moderner Technologie kriege ich ein ungutes Gefühl. Wahrscheinlich ist die Diskussion über “die böse Zivilisation vs. der böse Mensch” auch nicht wirklich hilfreich, aber die Geschichte mit dem Abstumpfen der Kulturpflanzen hat mich angeregt, darüber nachzudenken, ob wir mit unserer modernen Gesellschaft wirklich der Lebendigkeit dienen oder ob sie die Menschen nicht vielmehr krank macht.
Die Evolutionspsychologie hält folgende Vorschläge bereit, um mit dem “Mismatch” zwischen unserer “Jäger-und-Sammler Psychologie” und der modernen Lebensweise umzugehen:
Wir müssen nicht wieder in einer Höhle leben. Dennoch sollten wir anerkennen, dass die Psychologie der menschlichen Evolution die Art und Weise, wie wir unser Leben strukturieren und wie wir mit den neuen Herausforderungen der Umwelt umgehen, einschränkt.
Wir sollten unser Leben so gestalten, dass wir häufig von Angesicht zu Angesicht miteinander sprechen.
Unsere Arbeitsumgebung muss viel Raum für körperliche Bewegung, informelle Kontakte und Interaktionen mit der Natur bieten.
Gesunde und nachhaltige Lebensmittel sollten für alle leicht zugänglich, schmackhaft und preiswert sein.
Ich denke, dass erste Schulen nun beginnen, Smartphones zu verbannen, geht in die richtige Richtung. Spannend finde ich auch, dass immer mehr Waldkindergarten und Waldschulen entstehen. Bei den Kindern anzusetzen, ist naheliegend und aus meiner Sicht äusserst sinnvoll. Gleichzeitig sollten wir aber auch uns Erwachsenen nicht vergessen.
Wo erlebst du persönlich “evolutionären Mismatch” und wie gehst du damit um? Hast du viele Kontakte von Angesicht zu Angesicht? Wie steht es um deine Fähigkeiten, deine Artgenossen zu verstehen und zu spüren? Und wenn du frei sein könntest von der “Gesellschaft”, wenn du deine “wilde Seite” mehr leben könntest: Was würdest du in deinem Leben anders machen?
Vielen Dank für diesen großartigen, durchdachten, ehrlichen und klug aufgebauten Beitrag! Du hast es geschafft, die uralte Frage nach dem „guten“ oder „bösen“ Menschen auf eine wohltuend offene Weise zu beleuchten, ohne dich in Schwarz-Weiß-Mustern zu verlieren. Besonders stark finde ich die Gegenüberstellung von „Herr der Fliegen“ und der realen Inselgeschichte – das öffnet tatsächlich den Blick dafür, wie stark wir durch bestimmte Erzählungen geprägt werden.
Deine Verbindung zur Pflanzenwelt hat mich besonders fasziniert. Der Gedanke, dass nicht nur wir Menschen, sondern auch Pflanzen durch Entwurzelung und „Zucht“ ihre natürlichen Fähigkeiten verlieren, bleibt wirklich hängen.
Ein Gedanke, der mir beim Lesen noch kam: Wer profitiert eigentlich von dieser Entwicklung? Wer verdient daran, dass wir Menschen uns immer weiter von der Natur, von echten Begegnungen und von einem „artgerechten“ Leben entfernen? Ich glaube, es wäre spannend, diese Kapital- und Machtfrage noch stärker mit in den Blick zu nehmen – vielleicht in einem zukünftigen Beitrag?
Auf jeden Fall danke für diesen Perspektivwechsel. Ich nehme viel daraus mit.
Danke Daniel für deine Darstellung! Zur Degeneration der Kulturpflanzen fällt mir noch der Yams ein, Dioscorea batata, der da und dort vereinzelt aufwendig kultiviert wird. Man nennt ihn auch Lichtwurzel. Der Grund: Die Kartoffel, so erkannte Rudolf Steiner vor über 100 Jahren, würde mit der Zeit nicht mehr in der Lage sein, die Menschen mit den notwendigen Lichtkräften zu ernähren. Er sprach natürlich nicht von den Kalorien. Mit etwas Übung sind wir selbst durchaus in der Lage, die Wirkung einzelner Nahrungsmittel auf unseren Organismus zu "erlauschen". Ich habe mit Eiern markante Unterschiede erlebt. Ähnlich war es mit der Verpackung bei einem guten Mineralwasser (im Blindversuch!): belebend und aufhellend aus der Glasflasche, "stumpf" und weniger belebend aus der Petflasche. Da gibt es noch sehr viel zu erforschen!