
Ich bin gerade mit meiner Familie in Disentis in den Ferien. Mir gefällt es, im Bus zu sitzen und den Einheimischen zuzuhören, wie sie miteinander sprechen. Denn ich verstehe praktisch kein Wort - sie unterhalten sich in Rätoromanisch. In der Surselva ist Romanisch noch die erste Landessprache, im Grossteil der Schweiz jedoch lediglich die vierte Sprache, die es auch noch gibt - mit der man aber eigentlich nie in Kontakt kommt. Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch: Zu jeder Sprache gehört auch eine eigene Kultur und doch gehört alles zur Schweiz, sind wir alle Schweizerinnen und Schweizer. Doch inwiefern nehmen wir unsere Unterschiedlichkeit, die Vielfalt in der Schweiz im Alltag noch wahr? Und wenn wir sie wahrnehmen, erleben wir sie auch als Bereicherung?
Bereits seit geraumer Zeit habe ich den Eindruck, dass die Entwicklung unserer (westlichen) Gesellschaft immer mehr auf eine Gleichschaltung im Denken, Handeln und Aussehen hinausläuft. Als ich 2012 die baltischen Staaten bereist habe, war ich überrascht, wie sehr Riga mich an Zürich erinnert hat: Die Menschen sehen ähnlich aus, in den grossen Einkaufsstrassen finden sich dieselben Läden der grossen Ketten, die Trendcafés servieren dieselben Getränke - und sehen ebenfalls alle gleich aus. Dieselbe Erfahrung auf einer Interrail-Reise 2016, wiederum in Osteuropa: Zagreb, Budapest, Prag - überall die gleichen Läden und Cafés. Will heissen: die gleichen wie bei uns in der Schweiz oder in Deutschland. Natürlich bin ich mir bewusst, dass das vor allem auf die grossen Städte zutrifft und gerade auf dem Land vieles noch anders aussieht. Aber in Schweizer Dörfern ist es dennoch oftmals wie folgt: Der einzige Dorfladen ist ein Volg, die Restaurants gehen zu, dafür gibt es am Bahnhof Kebab und Pizza. Schweizer Ortschaften und Städte weisen immer noch viel Eigentümliches aus, doch Läden sind überall die gleichen. Als wir auf unserer Anreise nach Disentis beim Zwischenstopp in Chur in der dortigen Bahnhofstrasse ein Glace essen, fällt es mir erneut auf: New Yorker, Calzedonia, Intimissi, Lush - diese Läden finden sich ebenso in jeder anderen Schweizer Stadt. Auch der H&M ist nicht weit, gleiches gilt für C&A.
Während sich die Städte im Äusseren bereits seit einiger Zeit angleichen, scheint sich diese Angleichung nun langsam auch merklich auf das Innere auszuwirken. Der Designer und Architekt Gaetano Pesce hat in einem Interview gesagt, wie selbst Museen nicht mehr anzusehen sei in welcher Stadt sie stünden und zog daraus folgenden Schluss: „Für mich spiegelt der internationale Architekturstil eine politische Ideologie der Gleichartigkeit wider - dass wir alle gleich denken und uns gleich kleiden müssen.“ Gerade letzteres fällt mir bei jungen Menschen immer wieder auf: Die sehen alle praktisch gleich aus, kleiden sich identisch, die Mädchen schminken sich gleich, frisieren ihre Haare gleich. Bei den Jungs sind ebenfalls die gleichen Kleidungsstile zu beobachten, vom immergleichen Habitus und dem ständigen Zücken des Smartphones ganz zu schweigen. Auch das eine Szene in der Bahnhofstrasse in Chur: Junge Mädchen sitzen auf einer Bank, schauen auf ihre Handys und zeigen sich ab und zu, was sie dort gerade entdeckt haben. Diese Szenerie spielt sich sogar auf zwei verschiedenen Sitzbänken gleichzeitig ab. Klar, Adoleszenz, Pubertät, sozialer Vergleich, Identitätssuche, da war ich ja selbst auch mal. Aber in meiner Erinnerung waren wir nicht alle derart gleich. Ist dies nun der Einfluss des Internets, der sozialen Medien?
Die Begriffe „Filterblase“ und „Echokammer“ kennen wir ja schon länger und entsprechend ist uns eigentlich auch bewusst, dass sich auf den Online-Medien in der Regel lediglich Gleichgesinnte treffen. Aber wenn alle auf denselben Plattformen unterwegs sind, sind dann nicht plötzlich alle in ein und derselben Filterblase? Der Autor Kyle Chayka hat entsprechend den Begriff „Filterworld“ geprägt und schreibt in seinem gleichnamigen Buch: „Von trendigen Restaurants über die Städteplanung bis hin zu TikTok und Netflix-Feeds auf der ganzen Welt: Algorithmische Empfehlungen diktieren unsere Erfahrungen und Entscheidungen.“ Ich denke, Chayka beschreibt hier treffend, worin der Unterschied liegt zu Facebook anno 2008 oder erst recht zu meiner Jugend Ende der 1990er-Jahre: die Dominanz von Algorithmen. Während früher auf Facebook einfach chronologisch dargestellt wurde, was die anderen Menschen in meinem Freunde-Netzwerk gerade online gestellt haben, wird mein Feed heute von Algorithmen gesteuert. Im Vordergrund stehen Videos, externe Links, Verkaufsangebote - gesucht wird meine Aufmerksamkeit. Geboten wird vom Algorithmus nur das, was sich bereits bewährt hat. Lea Hagmann schrieb dazu in der NZZ am Sonntag treffend: „Wer auffallen will, liefert am besten Bekanntes.“ Dies führt zu einer Homogenisierung, welche sich nicht nur auf Kultur und Lifestyle auswirkt, sondern eben auch auf die materielle Welt. Architektur, Gastronomie, Fashion: Alles gleicht sich immer mehr an. Gerade im Zeitalter der Identitätspolitik wirkt diese Homogenisierung eigentlich paradox. Gleichzeitig ist aber klar, dass das menschliche Gehirn sich immer an dem orientiert, was es bereits kennt. Und folglich meist ablehnt, was es nicht kennt. Wenn wir in Disentis ins Hallenbad gehen, ist es selbstverständlich, dass unsere Kinder Schwimmflügel tragen. Als deren Erfinder Bernhard Markwitz in den 1960er-Jahren die ersten Prototypen in einem Hallenbad testete, trug dies jedoch noch sehr zur Belustigung der anderen Badegästen bei. Oder ähnlich erging es den ersten alpinen Skifahrern in Graubünden vor über hundert Jahren: Weil sie in den von Ski nordisch (Langlauf und Skispringen) dominierten Skiclubs ausgelacht wurden, trainierten sie heimlich nachts an vom Vollmond beleuchteten Hängen. Aus heutiger Sicht ist unvorstellbar, wie man Schwimmflügel oder Skifahrer auslachen könnte. Diese beiden Episoden zeigen jedoch eindrücklich: Das Neue, das Andersartige war für die Menschen schon immer herausfordernd. Am wohlsten ist es den meisten Menschen in der Gleichförmigkeit - und damit in der Unauffälligkeit.
Die jüngsten Entwicklungen scheinen mir nun aber anderer Natur zu sein. Mir scheint, als spitze sich durch den immer stärker werden Einfluss der Algorithmen unser Denken immer stärker zu. Und dies erstaunlicherweise in einer Zeit, in der es gleichzeitig auch so viele Möglichkeiten für individuelle Lebensentwürfe und so viel Toleranz gibt, wie vielleicht noch gar nie. Die oben beschriebene Homogenisierung vollzieht sich aus meiner Sicht auch im Denken und lässt in vielen Fällen nur noch zwei Möglichkeiten zu: Entweder siehst du es so wie ich, oder nicht wie ich. Schwarz oder Weiss. Vor Corona habe ich nicht so gefühlt, aber seit der Pandemie-Zeit geht dieser Eindruck bei mir nicht mehr weg. Das empathische Erkunden von Unterschieden, die Neugier, die eigene Sichtweise zu erweitern, scheint immer mehr verloren zu gehen. Der Wunsch nach Zugehörigkeit scheint derart prägend geworden zu sein, dass er sich längst im Unterbewusstsein eingenistet hat: Viele Menschen können sich nicht mehr bewusst machen, weshalb sie wie denken, die Abweichung von der Norm erscheint ihnen zu risikoreich. Lieber gehöre ich dazu, lieber falle ich nicht auf, als mich mit einer abweichenden Meinung ins Abseits zu manövrieren. Weshalb spitzt sich diese Entwicklung in der eigentlich so freien, offenen und toleranten Welt des 21. Jahrhunderts derart zu? Ich vermute: Es kann nicht nichts mit dem Internet und der Funktionsweise der sozialen Medien zu tun haben. Die Algorithmen erschaffen Filterblasen und Echokammern, welche die reale Welt weit mehr beeinflussen als umgekehrt. Und mit der gerade erst gestarteten KI-Welle dürfte die Macht der Algorithmen noch weiter zunehmen.
„Our lives are increasingly under the influence of unseen algorithms, whose creators effectively control what version of the news we read, what we buy, what information we consume, even the romantic relationships we end up having.“
Aus „To be a machine“ von Mark O‘Connell
Gerade bei generativer KI erstaunt es mich immer wieder, wie viele Menschen der Illusion der künstlichen „Intelligenz“ erliegen. Denn für mich ist sonnenklar: Mit Intelligenz hat das alles nichts zu tun, reproduziert die KI doch nur das, was bereits vorhanden ist. Die wohl bekannteste Applikation ChatGPT ist auf den ersten Blick zwar tatsächlich unglaublich leistungsstark. Wer sich die Funktionsweise von ChatGPT genauer anschaut, wird aber bald erkennen, dass die KI lediglich eine gross angelegte Wahrscheinlichkeitsrechnung betreibt. In Sekundenbruchteilen wird aufgrund der vorhandenen („trainierten“) Daten berechnet, welcher Buchstabe, welches Wort rein statistisch gesehen als Nächstes kommen sollte. Mit Bewusstsein, mit Semantik hat das nichts zu tun. Künstliche Intelligenz ist nicht programmiert, um die exakteste Antwort auf eine Frage zu finden, sondern die wahrscheinlichste Reaktion auf eine Frage zu liefern. Das erinnert eigentlich ein wenig an die Sendung Familienduell (in der Schweiz „5 gegen 5“), wo die Aufgabe jeweils nicht darin bestand, die korrekte Antwort zu erraten, sondern was die meisten der 100 befragten Personen geantwortet haben.
Weshalb glauben also so viele Menschen, was ChatGPT ihnen als Antwort liefert? Mir scheint, dass ein entscheidender Erfolgsfaktor von ChatGPT darin liegt, dass die Ergebnisse nicht auf einmal am Bildschirm erscheinen, sondern dass die Antwort auf eine Frage Wort für Wort, Zeile für Zeile auf dem Bildschirm „geschrieben“ wird. Genauso, als würde hier ein Mensch in die Tasten hauen und als könnte ich ihm beim Verfassen seiner Zeilen zuschauen. Rein technisch gesehen ist dieses Wort-für-Wort-Erscheinen der generierten Texte aus meiner Sicht keine Notwendigkeit. Ich vermute, dass die Applikation aus psychologischer Sicht jedoch sehr bewusst so programmiert wurde: Die Illusion einer genuinen, menschlichen Intelligenz soll damit gestärkt werden.
Aktuell befinden wir uns in einer Phase, in welcher der Einfluss von KI-Algorithmen auf unsere Gesellschaft noch eher gering ist. Wie wir aber an der zunehmenden Homogenisierung durch die Algorithmen der sozialen Medien erkennen können, ist das Potential für negativen Einfluss relativ gross. Am grössten dürfte aus meiner Sicht die Gefahr dann sein, wenn KI immer noch in regem Austausch mit Menschen sowie menschlich erstellten Inhalten steht. Denn wie Studien zeigen, werden KI bald „verblöden“, wenn sie nicht mehr mit neuen, menschlichen Inhalten gefüttert werden. Das bedeutet, dass die Gefahr nicht so gross ist, dass KI die Weltherrschaft an sich reisst und den Menschen verdrängt. Ich finde solche Vorstellungen sowieso absurd, aber nicht wenige Menschen beschäftigt ein solches Szenario ernsthaft. Die Gefahr, die ich sehe mit der Ausbreitung der KI-Algorithmen, ist vielmehr: Dass sich die oben beschriebene Homogenisierung und damit auch das Schwarz-Weiss-Denken noch weiter verstärkt. Apple CEO Tim Cook hat dazu bereits 2018 treffend gesagt: „My worry is not that machines will think like people - it's that people will think like machines.“ Beispiele, wie generative KI Stereotypen verstärkt, gibt es unterdessen zuhauf. Und ich befürchte, dass die beobachtbare Homogenisierung im Denken noch stärker wird, wenn KI-Anwendungen sich noch mehr ausbreiten - gerade weil sie ja eigentlich nur reproduzieren, was Menschen in einem ähnlichen Fall am wahrscheinlichsten gesagt oder geschrieben hätten.
Wie könnten wir dem nun begegnen? Eine Möglichkeit sehe ich darin, dass wir unsere Technologien ab und zu bewusst zur Seite legen, menschliche Unschärfe und Vielfalt zulassen und würdigen, und damit auch die Vielfalt auf unserem Planeten, die Vielfalt der Natur. Auch hier gibt es zwar viele Muster, die sich immer wieder wiederholen, aber aus einfachem Grund: Sie dienen dem Leben, dem Fluss der Natur, den ständigen Zyklen des Werdens und Vergehens.
Ich lese gerade das Buch „The Way Home“ von Mark Boyle, welcher seit 2016 ohne moderne Technologien in einer selbst gebauten Hütte ohne Strom und fliessend Wasser lebt. Er beschreibt an einer Stelle, wie er sich als Vorbereitung auf ein Leben ohne Internet und Google-Suche ein grosses Lexikon angeschafft hat und welchen Effekt er dadurch verspürte: „If I wanted to understand the definition of a word in the past I would simply Google it, and by the time I had exhaled the ‚w‘ of ‚now‘ I‘d have it‘s meaning. But nothing else. Now if I want to find out the year Gerald Manley Hopkins died, my eye is caught by curiosities from hookworm (no thanks) to horn of plenty (another name for cornucopia - yes please) instead of a screenful of carefully targeted adverts.“ Ich glaube nicht, dass wir alle wie Boyle ohne moderne Technologie in einer einfachen Hütte leben müssen, aber ab und zu mal wieder in einem Lexikon etwas nachschlagen, statt in einer Online-Suche, finde ich eine schöne Idee. Oder wir könnten auch wieder mal unsere alten Lieblings-CDs und -Platten aus dem Keller holen, statt uns vom Spotify-Algorithmus Musik vorspielen zu lassen (die - du ahnst es - alle ziemlich gleich klingt). Und wir könnten uns ganz einfach wieder mehr mit den Unterschieden befassen, von diesen lernen, statt sie zu verdrängen. Dazu noch einmal Gaetano Pesce:
„Wenn wir alle gleich sind, können wir nicht miteinander reden, denn es gibt nichts zu sagen. Aber wenn wir beide unterschiedlich sind, gibt es viel auszutauschen.“
Gaetano Pesce, italienischer Architekt und Designer (1939-2024)
Ich habe weiter oben von Facebook geschrieben und nicht von Instagram, X oder TikTok, weil ich diese Plattformen selbst gar nie verwendet habe. Gerade weil bekannt ist, dass der Algorithmus von TikTok „derart gut“ ist (wohl bemerkt: derart gut darin, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln), will ich mich dem gar nicht aussetzen. Und ChatGPT habe ich selbst übrigens auch noch nie verwendet - vielleicht nicht sehr glaubwürdig, wenn ich hier kritisch darüber schreibe? Nun, es interessiert mich schlichtweg nicht. Und ich schaue auch bewusst nicht mehr so viel Netflix, weil ich tatsächlich finde, dass die Netflix-Serien und -Filme immer wie mehr alle gleich werden.
Wie geht es dir mit von Algorithmen gesteuerten Technologien? Welche könntest du aus deinem Leben verbannen oder zumindest ab und zu bewusst weglegen? Und wo findest du Vielfalt statt Gleichform?
Wäre spannend, wenn wir uns mal über das Thema KI zusammen unterhalten. Da habe ich eine etwas andere Sicht, als die, die du hier schreibst (auch aus meiner Selbsterfahrung).
ChatGPT und Co. kann man als "Wahrscheinlichkeitsrechnung" bezeichnen - ich finde es aber nicht zielführend, weil so diese Technologie womöglich stark unterschätzt wird. Ob die KI nur "reproduziert" ist auch nicht so klar - oder zumindest müssen wir uns fragen, ob wir denn auch nur reproduzieren. Wenn diese Systeme immer näher an die Funktionsweise und Leistung unserer Gehirne kommt oder diese übersteigt, ist dann wirklich die Frage, was unsere Kreativität von der Kreativität einer KI unterscheidet. Es mag das "gewisse Etwas" fehlen. Aber was, wenn wir es mit unserem Verstand nicht mehr voneinander unterscheiden können. Spätestens dann müssen wir über Spiritualität reden - also dieses "Etwas", das die KI nicht hat.