Wird unser Wirtschaftssystem immer lebensfeindlicher?
Über den weltweit beobachtbaren Geburtenrückgang und die Notwendigkeit, dem Leben zu dienen.

Meine Frau und ich haben zwei Kinder. Unser Jüngster ist nun 18 Monate alt und so langsam kommt bei uns die Frage auf, ob wir noch ein drittes Kind haben möchten. Bereits mit zwei Kindern liegen wir aber über dem Schweizer Durchschnitt: Die Geburtenrate in der Schweiz ist jüngst auf unter 1,4 Kinder pro Frau gefallen. Um eine stabile Bevölkerungszahl zu halten, braucht ein Land (ohne Zuwanderung) eine Geburtenrate von 2,1 Kindern. Der Durchschnitt in Europa beträgt aktuell 1,5 Kinder pro Frau, in den 1950er Jahren lag dieser noch bei 2,7. Mit der Ausnahme von Afrika sinkt die Geburtenrate aktuell praktisch auf der ganzen Welt und laut einer Studie im Fachjournal “The Lancet” soll die Geburtenrate bis ins Jahr 2100 in 97 Prozent aller Länder unter die 2,1 fallen. Die Menschheit wird in Zukunft also wieder schrumpfen. Für den Planeten ist dies eigentlich keine so schlechte Nachricht, denn die Probleme mit dem Klima und der schwindenden Biodiversität lassen sich unter anderem auch auf den massiven Bevölkerungszuwachs seit dem 18. Jahrhundert zurückführen.
Die weltweit sinkenden Geburtenraten bedeuten in anderen Worten, dass es uns als Menschheit nicht mehr gelingt, lebensdienliche Bedingungen für Familien zu schaffen. Viele Staaten denken, dass dies eine Frage des Geldes ist. Die aktuelle Strategie vieler Länder (z.B. von Ungarn und Polen, aber auch von Deutschland) lautet entsprechend, den Eltern mehr Geld zu geben, damit diese wieder mehr Kinder haben. Die Erfahrung in Skandinavien zeigt jedoch, dass das nicht funktioniert: Die Kitas sind dort meist gratis, die Geburtenrate ist aber auch hier rückläufig. Aus meiner Sicht ist klar, dass es nicht um Geld geht. Vielmehr glaube ich, dass wir ein System erschaffen haben, das immer lebensfeindlicher wird. Auch wenn viele Politiker etwas anderes behaupten würden, wird die Wirtschaft und das Geldsystem in unserer Gesellschaft viel höher gewichtet als Kinder und Familien. Daher kommt es eigentlich auch nicht überraschend, dass “mehr Geld” die Antwort der ökonomisch geprägten Gesellschaft auf die sinkende Geburtenrate ist. Aus meiner Sicht liegt das Problem aber genau darin, dass wir alles auf die Wirtschaft ausrichten und so tun, als sei dies der wichtigste Teil unserer Gesellschaft. Aber nicht die Wirtschaft, sondern die Menschen mit ihren Kindern sind die Basis unserer Gesellschaft. Ohne Menschen gibt es keine Wirtschaft. Ich gehe daher einig mit dem berühmten Kinderarzt und Autor Remo Largo: Gesellschaft und Wirtschaft müssen wieder familienfreundlicher werden.
Die Wirtschaft steht über allem
In der Schweiz kommt bald die Kita-Initiative der SP zur Abstimmung, welche für genügend bezahlte Kita-Plätze sorgen will, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser gelingt. Da meistens immer noch Frauen ihre Erwerbsarbeit zu Gunsten der Kinderbetreuung ganz oder teilweise aufgeben, sei die Initiative gemäss der SP ein wichtiges Puzzleteil auf dem Weg zu mehr Gleichstellung. Eltern, die ihre Kinder familienextern in einer Kindertagesstätte betreuen lassen, würde mit Annahme der Initiative finanziell unter die Arme gegriffen. Das wäre sicherlich für viele Familien eine grosse Unterstützung - meine Frau und ich würden jedoch leer ausgehen. Wir haben uns entschieden, dass wir unsere Kinder nicht in eine Kita geben, sondern lieber ganz in der Familie selbst betreuen möchten. Wir arbeiten beide Teilzeit (meine Frau ca. 50% und ich ca. 70%) und einen Tag pro Woche sind die Kinder bei den Grosseltern. Natürlich sind wir privilegiert, dass wir als Selbständigerwerbende beide unsere Arbeitszeiten selber festlegen können und Teilzeitarbeit kein Problem für uns ist. Und dass die Eltern meiner Frau jede Woche einen Tag auf unsere Kinder schauen, ist ein grosses Geschenk, welches bei weitem nicht alle Familien geniessen. Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass dies eigentlich das Modell wäre, das wir fördern müssten. Denn aus meiner Sicht dient die Förderung der Kitas nicht in erster Linie den Familien, sondern primär der Wirtschaft. Denn so verstehe ich die Kita-Initiative: Die Wirtschaft braucht mehr Arbeitskräfte - und daher sollen die Frauen bitte wieder zurück in das Wirtschaftssystem und dort ihre Leistung erbringen.
Wenn es wirklich darum ginge, die Familien zu fördern, dann würden wir endlich dafür sorgen, dass Männer weniger arbeiten müssen und mehr Zeit zu Hause mit den Kindern verbringen können. Denn das wäre auch eine Möglichkeit, um die Frauen zu unterstützen, die immer noch die meiste Betreuungs- und Familienarbeit leisten. Der Gleichberechtigung wäre aus meiner Sicht mehr gedient, wenn die Männer ihr Arbeitspensum den Frauen angleichen, anstatt die Frauen den Männern. Oder wenn sich beide in der Mitte treffen. Wenn es der Politik also um die Unterstützung der Familien ginge, dann wäre die Unterstützung der Familienarbeit der naheliegende Ansatz und nicht die Unterstützung der familienexternen Kinderbetreuung. Daher komme ich auf die These, dass es vor allem darum geht, dass die Wirtschaft weiterhin brummt. Entsprechend fände ich es ehrlicher, wenn nicht der Staat die Kitas fördern würde, sondern die Wirtschaft. Die Firmen suchen Mitarbeitende und sollten versuchen, Anreize zu setzen um diese erfolgreich rekrutieren zu können. Wenn sie denken, dass potenziellen Arbeitnehmenden die fehlende Kinderbetreuung im Wege steht, sollen sie diese Angebote selbst schaffen. Dass immer mehr Firmen eigene Kindertagesstätten betreiben oder Betreuungszulagen ausrichten, geht daher aus meiner Sicht in die richtige Richtung.
Welche Betreuungssituation ist artgerecht?
Für mich war die Vorstellung immer komisch, dass ich Vollzeit arbeiten gehen und dann andere dafür bezahlen soll, dass sie zu meinen Kindern schauen. Ich weiss zwar, dass das Betreuungspersonal einen guten Job macht (ich habe 2012 einen Zivildiensteinsatz in einer Kinderkrippe absolviert), ich bin mir aber nicht sicher, ob die Betreuungssituation in einer Kita wirklich passend ist für kleine Kinder. Damit meine ich, dass es in einer Kita viele Kinder in einem ähnlichen Alter gibt und dazu Betreuungspersonen, welche ebenfalls meist in einem ähnlichen Alter sind (in der Regel junge Frauen). Wenn wir an das bekannte Sprichwort “Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf” denken, dann stelle ich mir vor, wie früher in Grossfamilien und Dorfgemeinschaften die Kinder betreut wurden: Dort gab es viele verschiedene Menschen in ganz unterschiedlichem Alter, die sich gegenseitig unterstützt haben. Ältere Kinder schauten zu den Jüngeren, es gab Tanten, Onkel und Grosseltern im selben Haus, also insgesamt eine viel höhere Durchmischung an Personen verschiedenen Alters und verschiedener Generationen.
Ich habe den Eindruck, dass dies eigentlich eher einer “artgerechten Haltung” von Homo Sapiens entspricht. Und weiter glaube ich auch, dass es einen Unterschied macht, ob die Betreuungspersonen Teil der “Familienbande” sind, also eine persönliche Verbindung zu den Kindern haben, oder ob es sich um professionelles Betreuungspersonal handelt. Hier sind wir mit unserer “Grosseltern-Kita” in einem Modell, welches diesem Bild eines Dorfes näherkommt, als eine professionelle Kita: Immer am Donnerstag sind alle Grosskinder (aktuell fünf an der Zahl) bei den Eltern meiner Frau, unterstützt werden diese in der Betreuungsarbeit von einer Schwester meiner Schwiegermutter, welche jeweils für die ganze Gruppe kocht, sowie von einer Schwester meines Schwiegervaters, welche in der Betreuung mithilft. Wenn ich sehe, wie nicht nur die fünf Kinder, sondern auch die vier Grosseltern und Grosstanten diese Situation geniessen, berührt mich das sehr. Und ich kann das Familienband förmlich spüren, welches all diese Menschen verbindet. Mich und meine Frau sowie ihre Schwester und deren Mann als Eltern der Kinder eingenommen.
Wäre dies nicht eine Betreuungssituation, die wir fördern sollten? Menschen mit einer persönlichen Beziehung, die es geniessen, gemeinsam Zeit zu verbringen und es auch als selbstverständlich erachten, dass man sich gegenseitig unterstützt? Die Kita-Initiative bringt folgende Krux mit sich: Wir als Familie würden von all dem Geld nichts sehen. Denn es geht nur darum, Kita-Plätze zu finanzieren und nicht, die Kinderbetreuung per se zu unterstützen. Wer mehr arbeitet und auch noch Geld kriegt für die Kita, der hat danach unter dem Strich mehr Geld, als wer wie wir weniger arbeitet, um die Kinder selbst zu betreuen und dann dafür auch noch kein Geld erhält von der staatlichen „Familienförderung“. Auch die Grosseltern und Grosstanten sehen von dieser Familienförderung übrigens keinen Rappen.
Ich frage mich, weshalb die familienexterne Betreuung heute so stark gefördert wird und wie es eigentlich kam, dass dieses Modell praktisch zum Standard wurde. Denn die Selbstverständlichkeit der Kita-Betreuung geht mitunter so weit, dass ich manchmal das Gefühl kriege, dass ich mich rechtfertigen müsste, weshalb unsere Kinder nicht in die Kita gehen. Schliesslich sei die Kindertagesstätte und das Zusammensein mit anderen Kindern für die Entwicklung doch derart wichtig. Mir fällt es irgendwie schwer, das zu glauben. Ich habe ein starkes Gefühl, dass es für kleine Kinder immer noch das Beste ist, wenn sie möglichst viel Zeit mit ihren Eltern verbringen können. Natürlich sind viele Begegnungen und das freie Spiel mit anderen Kindern wichtig, aber ich glaube, es macht einen wesentlichen Unterschied, wenn dies im Rahmen einer elterlichen Betreuung stattfindet.
Eine Langzeitstudie in der Stadt Zürich scheint mein Unbehagen bezüglich der Kita-Betreuung zu bestätigen. Denn die Forscher der Universität Zürich fanden heraus: Je mehr Zeit Kinder in einer Kita verbracht hatten, desto häufiger neigten sie später zu aggressivem Verhalten und desto öfters zeigten sich ADHS-Symptome. Laut Angaben der Eltern nahmen auch Ängstlichkeit und Depressionen zu, die Kinder selbst beurteilten das später ähnlich. Könnte es also sein, dass wir mit den flächendeckenden Kita-Angeboten einen Holzweg beschritten haben? Unsere Kinder sind zwar “versorgt”, während wir unsere Leistung im Wirtschaftssystem erbringen, die Kita tut ihnen aber gar nicht unbedingt gut, ja vielleicht schadet sie der gesunden psychologischen Entwicklung sogar.
Die Ökonomisierung ehemals frei verfügbarer Güter
Für die Wirtschaft geht die Rechnung auf jeden Fall auf. Sie kriegt die gewünschten Arbeitskräfte und die verrechneten Leistungen der Kinderbetreuung erhöhen gleichzeitig das Bruttoinlandprodukt (BIP). Auch wenn es nur ein kleiner Teil sein dürfte, so trägt nämlich auch die Gründung von Kitas zum Wirtschaftswachstum bei. Daher müssen wir uns im Klaren sein: Für eine wirtschaftlich orientierte Gesellschaft ist es nicht interessant, wenn Menschen sich gegenseitig unterstützen und Dienstleistungen schenken. Erst wenn Güter und Dienstleistungen verrechnet werden, wächst die Wirtschaftsleistung. Wie Charles Eisenstein in “Sacred Economics” beschreibt, baut unser Wirtschaftswachstum darauf auf, dass immer noch mehr Bereiche unseres Zusammenlebens ökonomisiert werden - und damit zum Bruttoinlandprodukt gezählt werden können. Das Muster ist merklich einfach: Für Dinge, die einst gratis waren oder die wir einander geschenkt haben, soll nun bezahlt werden. Die Ökonomie funktioniert anhand der Logik, eine Knappheit zu fördern respektive Dinge knapp zu machen, die einst frei verfügbar waren.
„Economics (…) is the study of human behavior under conditions of scarcity. The expansion of the economic realm is therefore the expansion of scarcity, its incursion into areas of life once characterized by abundance.“
Aus “Sacred Economics” von Charles Eisenstein, S. 29
Neben der Kinderbetreuung ist Mineralwasser (“bottled water”) dafür wohl das einleuchtendste Beispiel, dass Eisenstein in seinem Buch nennt. Die NZZ am Sonntag hat gerade erst darüber geschrieben, dass der “Mythos Mineralwasser wankt”. Es wurde aufgedeckt, dass Nestlé illegal und ohne es zu deklarieren Wasser gereinigt hat. Zudem wurde von einem Chemiker berichtet, dass PET-Flaschen Chemikalien an das Wasser abgeben können. Das Qualitätsversprechen “Natürliches Mineralwasser” wird also gar nicht eingehalten, die natürlichen Quellen sind nicht mehr sauber und Wasser wird unter Umständen sogar durch PET-Flaschen vergiftet. Und hier war noch nicht einmal die Rede davon, was Nestlé und andere Grosskonzerne weltweit lokalen Gemeinschaften angetan haben, indem sie deren Wasserbestände “gekauft” haben. Für mich steht das Thema Wasser prototypisch dafür, welcher Schaden entstehen kann, wenn eine einst frei geteilte Ressource ökonomisiert wird. Ich hoffe, dass dieser Mythos wirklich bald ins Wanken kommt und mich beschäftigt folgende Frage: Wenn die Ökonomisierung von Mineralwasser die Qualität des verfügbaren Wassers insgesamt negativ beeinflusst, könnte auch die Ökonomisierung der Kinderbetreuung die Qualität der Kinderbetreuung insgesamt negativ beeinflussen?
Es lohnt sich, ebenfalls genau hinzuschauen, wie es dem Kita-Personal in diesem System der ökonomisierten Kinderbetreuung geht. In einer Umfrage mit über 700 Kita-Mitarbeitenden gaben im Jahre 2021 knapp 80 Prozent an, dass sie sich bei der Arbeit gestresst fühlen, knapp die Hälfte litt an Schlafstörungen und 40 Prozent der Personen ziehen einen Jobwechsel in Betracht. Sehen wir hier also nun ein funktionierendes System, oder eher nicht?
Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit
Wenn ich oben geschrieben habe, dass aus meiner Sicht die sinkenden Geburtenraten damit zusammenhängen könnten, dass die Lebensbedingungen, die wir in unserem aktuellen System erschaffen, ständig schlechter werden, hat dies meiner Meinung nach also vor allem damit zu tun, wie unser Geldsystem funktioniert. Rund um die Initiative zum Bedingungslosen Grundeinkommen wurde die spannende Frage aufgeworfen, weshalb wir eigentlich als Gesellschaft denjenigen Menschen, denen wir unser Geld anvertrauen, so viel mehr Geld geben als den Menschen, denen wir unsere Kinder anvertrauen. Ich bin überzeugt: Wenn wir die Gesundheit der Familien, der Kinder, der Menschen nachhaltig fördern möchten, dann müssten wir unser Geldsystem ganz anders organisieren.
Neulich habe ich im Zug ein interessantes Gespräch mitgehört. Eine der drei Personen im Gespräch hat folgende Frage gestellt: Was würde passieren, wenn alle Menschen weltweit von heute auf morgen aufhören würden, Coca Cola zu trinken? Seine These war, dass dies auf das Wirtschaftssystem einen gewaltigen Einfluss haben würde. Ich fand diesen Gedanken sehr interessant. Denn am Beispiel von Coca Cola wird für mich deutlich, wie die moderne Wirtschaft darauf fusst, Produkte anzupreisen und zu verkaufen, die eigentlich kein Mensch braucht. Coca Cola ist vor allem eine sehr erfolgreiche Marketing-Geschichte. Mittels enorm aufwändigen Marketing-Kampagnen wird seit Jahrzehnten suggeriert, dass man ein besseres Lebensgefühl habe, wenn man Coca Cola trinkt. Das Tragische an dieser Geschichte: Gerade Süssgetränke wie Coca Cola sind eigentlich alles andere als gesund und bei vielen Menschen leider Teil eines sehr ungesunden Lebensstils. Das Marketing von Coca Cola ist aber seit Jahrzehnten höchst erfolgreich und genau so geht es vielen anderen Grosskonzernen, die eine Unsumme an Geld in die Vermarktung ihrer Produkte investieren können - in die Vermarktung von Produkten, die wir eigentlich gar nicht brauchen würden.
Wenn wir durch die Stadt gehen, im Bus sitzen oder die Zeitung aufschlagen, springt uns ständig Werbung entgegen, die Firmen kämpfen förmlich um unsere Aufmerksamkeit. Und diese Aufmerksamkeitsökonomie hat sich seit dem Aufkommen der Sozialen Medien noch einmal massiv zugespitzt. Gerade bei Plattformen, die gratis verwendet werden können (wie z.B. Facebook, Instagram oder X), stellt sich die Frage, welches Produkt hier eigentlich geboten wird und warum dieses Produkt gratis sein soll. Zunehmend drängt sich die folgende Perspektive auf: Eigentlich sind wir das Produkt, deshalb dürfen wir die Plattformen gratis nutzen. Die Plattformbetreiber verkaufen unsere Aufmerksamkeit an ihre Werbekunden - und entsprechend ist es ihr erklärtes Ziel, uns so lange wie möglich auf ihrer Plattform zu halten, um so viel Aufmerksamkeit wie möglich von uns abgrasen zu können. Und die Algorithmen der Apps werden immer perfider, immer besser: die durchschnittliche Verweildauer auf Tiktok liegt bei 90 Minuten pro Tag.
Soziale Medien und Smartphones machen krank
Dass die Sozialen Medien eigentlich alles andere als “sozial” sind, wurde bereits vor einiger Zeit deutlich. Verschiedene Studien haben aufgezeigt, welche psychischen Folgen ein übermässiger Konsum von Sozialen Medien haben kann: Jugendliche, die mehr Zeit mit der Nutzung sozialer Medien verbringen, leiden eher an Depressionen, Angstzuständen und anderen Störungen, während Jugendliche, die mehr Zeit mit Gruppen junger Menschen verbringen (z. B. beim Mannschaftssport oder in Gemeinschaften), eine bessere psychische Gesundheit haben. Nun scheint sich in dieser Debatte langsam auch politisch etwas in Bewegung zu setzen: Der US-Bundesstaat Florida prüft ein Social Media Verbot für unter 16-Jährige und auch in der Schweiz gibt es Stimmen, die das befürworten würden, etwa der Philosoph und Schriftsteller Rolf Dobelli. In der EU läuft zudem ein Verfahren gegen die neuste Tiktok-Weiterentwicklung Tiktok Lite, welche als besonders “toxisch und süchtig machend” angesehen wird (Nutzer können Punkte sammeln, wenn sie möglichst viele Videos anschauen und die Punkte können dann in Gutscheine umgewandelt werden).
Die Gefahr geht aber nicht allein von den Sozialen Medien aus, sondern hat viel mit der Nutzung von Smartphones zu tun. Der Psychologe Jonathan Haidt schreibt in seinem neusten Buch “The Anxious Generation”, dass seit dem Aufkommen der Smartphones in den 2010er-Jahren die mentale Gesundheit von Jugendlichen dramatisch abgenommen hat. Die Journalistin Bari Weiss fasst seine Argumentation wie folgt zusammen:
“Why are kids today more anxious than ever, more depressed than ever, more risk-averse than ever, lonelier than ever, and less social than ever? It’s pretty simple, he argues: we changed childhood. The mass migration of childhood from the real world into the virtual world has completely changed what it means to be a kid. In replacing free play and quality time with friends with the isolation of screens and phones, we instigated what he calls “the great rewiring.”
Bari Weiss über “The Anxious Generation” von Jonathan Haidt in The Free Press
Haidt nennt vier fundamentale Schädigungen, die durch eine “phone-based childhood”, also eine Kindheit mit Smartphone, entstehen können:
Sozialer Mangel
Schlafentzug
Fragmentierung der Aufmerksamkeit
Suchtverhalten
Der Soziale Mangel der jüngeren Generationen wird deutlich, wenn wir uns folgende Grafik anschauen, welche die Entwicklung der durchschnittlichen Zeit aufzeigt, welche Menschen in Amerika mit Freunden verbringen:

Die jüngste Generation verbringt gemäss dieser Studie zwar immer noch am meisten Zeit mit Freunden, diese gemeinsame Zeit hat seit dem Jahre 2013 aber dramatisch abgenommen. Es ist anzunehmen, dass die Situation für junge Menschen in Europa ähnlich aussehen dürfte. Wenn wir das Gegenteil von Zeit mit Freunden als Einsamkeit lesen, dann bestätigen jüngst veröffentlichte Zahlen zur erlebten Einsamkeit im Kanton Luzern eine ähnliche Entwicklung auch in der Schweiz:

Mit einem Blick auf die Jahreszahlen der beiden Grafiken wird deutlich, dass diese Entwicklung bereits vor der Corona-Pandemie eingesetzt hat. Seit der Pandemie hat sich die psychische Gesundheit von Jugendlichen nochmal verschlechtert, die Kinder- und Jugendpsychiatrie verzeichnet aktuell einen Höchststand an psychischen Erkrankungen und sämtliche Klinken führen lange Wartelisten. Robert Waldinger, ein Professor für Psychiatrie in Harvard, spricht sogar von einer “Einsamkeitsepidemie”. Das Erstaunliche daran ist eigentlich folgendes: Es gibt auf unserem Planeten so viele Menschen wie noch nie, doch diese fühlen sich so einsam wie noch nie.
Wohlgemerkt, auch ich habe in meiner Jugend viel Zeit vor dem Computer verbracht. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied von damals zur heutigen Zeit: Unsere Geräte waren noch nicht mobil, der PC blieb stets zu Hause im Zimmer. Die heutige Generation kann ihren Computer samt Internetzugang jedoch überallhin mitnehmen, Smartphones sind immer dabei und ständig online. Laufend treffen neue Benachrichtigungen auf dem Bildschirm ein (bis zu 230 pro Tag), unterbrechen die Menschen bei ihrer jeweiligen Aktivität - und saugen deren Aufmerksamkeit in die Apps der Sozialen Medien. Mögliche Folgen: Fragmentierung der Aufmerksamkeit, Schlafentzug, Suchtverhalten.
Dieser jungen Generation, die mit dem Smartphone aufgewachsen ist, geht es also so schlecht wie noch nie. Und dies soll nun die nächste Generation sein, die Kinder zeugt? Spielt die verminderte psychische Gesundheit junger Menschen vielleicht bereits heute in die sinkenden Geburtenraten hinein? Viele junge Menschen entscheiden sich etwa dagegen, Kinder zu kriegen, weil sie finden, dass man in diese Welt keine Kinder mehr stellen kann. Die einen wollen damit klimabewusst handeln, andere sind desillusioniert durch Krieg und Zerstörung. Dies ist ebenfalls ein möglicher Hinweis darauf, dass es uns eben nicht mehr gelingt, lebensfreundliche Bedingungen zu schaffen, wenn junge Menschen die Welt insofern nicht mehr als lebenswert erachten, als dass sie keinen Kindern mehr das Leben weitergeben möchten.
Weniger Sex, mehr Pornos
Was sowohl zur psychischen Krise junger Menschen als auch zur sinkenden Geburtenrate passt: Junge Menschen haben immer weniger Sex. Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ifop in Frankreich haben 43 Prozent der Jugendlichen zwischen 18 und 25 Jahren keine sexuellen Beziehungen - während 82 Prozent der Befragten im Alter zwischen 18 und 30 Jahren regelmässig Pornografie konsumieren. Die Sexologin Thérèse Hargot erzählte Anfang März in einem Interview, dass halbwüchsige Buben zu ihr sagen würden: “Es ist so viel einfacher, sich einen Porno reinzuziehen, als ein Mädchen zu erobern.” Oder sie höre: “Wenn das Mädchen nein sagt, meint es doch ja, will es aber nicht zugeben.” Die jungen Männer, die sich an pornographische Darstellungen gewöhnen, stünden vor einem neuen Problem: Die Frauen, denen sie in der Realität begegnen, machen sie nicht mehr an. Aber auch junge Frauen werden abhängig von Pornos, ihr Verhalten und ihre Vorstellungen werden ebenfalls von der Pornographie geprägt.
Die Sängerin Billie Eilish sprach kurz vor ihrem 20. Geburtstag in einem Interview erstmals über ihre langjährige Pornosucht. Sie sagte, ihr Pornokonsum ab dem 11. Lebensjahr hätte ihr “Gehirn zerstört” und sie unfähig gemacht für Beziehungen. Sie hätte damals nicht begriffen, dass Pornos schauen so eine üble Sache sei. Sie fand es vielmehr cool und sah Pornokonsum auch als Ausdruck einer Widerstandshaltung gegenüber den “kleingeistigen” Erwachsenen. Dass mit Billie Eilish eine bekannte und gerade bei jungen Menschen sehr angesehene Person kritisch über ihre Pornosucht spricht, wird hoffentlich einige junge Menschen dazu anregen, über ihren Pornokonsum nachzudenken. Denn gemäss Thérèse Hargot haben wir es heute bei vielen Erwachsenen mit unreifen Personen zu tun, deren Beziehung zur Sexualität durch ihren Pornokonsum ausschliesslich triebgesteuert ist. Auch hier gibt es eine Verbindung zur Dominanz der Wirtschaft in unserer Gesellschaft: Hargot bezeichnet die Pornographie als “Schrittmacher der Konsumgesellschaft”. Die triebgesteuerte Sexualität bestimmt das Konsumverhalten und Produkte werden mit dem versprochenen Lustgewinn beworben.
Online-Verhalten schränkt uns ein im echten Leben
Soziale Medien und Pornographie lassen uns vereinsamen und distanzieren uns von echter menschlicher Verbindung. Sowohl Soziale Medien als auch Pornographie sind älter als Smartphones, haben sich aber nicht zuletzt dank dem “Siegeszug” des Smartphones so rasant ausgebreitet. Mit den Smartphones hat sich auch das Kennenlernen von potenziellen Partnern verändert, “Dating-Apps” wie Tinder gab es in dieser Form vor dem Smartphone nicht. Die vielen potenziellen Partner auf Apps wie Tinder oder Badoo führen gemäss der niederländischen Sozialpsychologin Tila Pronk zu einem “choice overload”: Wenn Menschen viele Wahlmöglichkeiten haben, zögern sie ihre Entscheidung hinaus und werden zunehmend unzufriedener mit den verfügbaren Optionen. Gerade bei Tinder wird immer wieder kritisiert, dass die App sehr oberflächlich sei, und durchaus erleben sich viele Dating-Partner lediglich als produktartig. Das Verhalten auf den Dating-Apps wirkt sich zunehmend auch auf das analoge Leben aus, die Dating-Kultur hat sich insgesamt verändert. Die Sozialpsychologin Johanna Degen beschreibt dies so, dass Dating heute möglichst wenig Zeit, Aufwand, Geld und Emotionen kosten soll. Die Menschen investieren wenig Zeit, um einen Menschen kennenzulernen, aber viel Zeit in die App, um herumzuwischen. Sie erläutert, wie Menschen früher aktiv werden mussten, wenn sie auf Partnersuche waren: Sie sind an Konzerte gegangen, haben Nächte durchgetanzt, mitten in der Nacht betrunken einen Döner gegessen. Auch wenn sie keinen Partner gefunden haben, haben sie ihr Leben gelebt und Erlebnisse gesammelt. An die Wochenenden, in denen er auf Tinder alle Profile durchgeswiped hat, wird sich aber später wohl niemand mehr erinnern können.
Zeit mit Dating-Apps zu verbringen, hat keinen positiven Effekt auf das Wohlbefinden. Ähnlich bei Instagram: Wenn ich nur auf dem Sofa liege und mir Rezepte durchscrolle, die ich niemals kochen werde, dann hat das einen negativen Effekt auf mein Wohlbefinden. Anders sieht es aus, wenn ich Instagram nutze, um ein Rezept herauszusuchen, dass ich dann mit einem anderen Menschen gemeinsam koche. Die Frage stellt sich somit, wie viel Bezug die Online-Situation zum echten Leben hat. Und leider allzu oft werden im Internet oder auf Apps Verhaltensweisen gefördert, die im echten Leben niemals akzeptiert würden. In Online-Kommentarspalten herrscht zum Beispiel oft ein sehr beleidigender Ton und ich stelle mir dann immer vor, dass im realen Leben niemand so sprechen würde. Oder in Bezug auf Dating ist es online normal, dass man mit mehreren Personen gleichzeitig flirtet, während man sich mit diesem Verhalten in einer Bar wahrscheinlich eher diskreditieren würde.
Grundsätzlich bin ich bezüglich Online-Dating per se ja eigentlich nicht so kritisch, und das aus gutem Grund: Ich habe meine Frau im Jahre 2016 dank Tinder kennen gelernt. Auch Facebook habe ich früher sehr aktiv genutzt und habe in den Anfangsjahren (d.h. als ich neu auf Facebook war, so ca. 2008) sogar ein paar Mal wieder Kontakt gefunden zu Menschen von früher, die ich aus den Augen verloren hatte. Während meines Studiums (2009-2012) hatten wir eine sehr aktive Facebook-Gruppe “Lied des Tages”, die uns nicht nur online, sondern auch an der Hochschule verbunden hat. Waren das vielleicht die “guten alten Zeiten” von Facebook oder gar die “guten alten Zeiten” der Sozialen Medien und des Online-Datings? Mein Eindruck ist, dass die Sozialen Medien immer flacher werden, immer oberflächlicher - und damit immer unsozialer. Lea Hagmann hat kürzlich in der NZZ am Sonntag etwas ähnliches geschrieben: “Auf den Dating-Apps passiert, was man derzeit überall auf Social Media beobachten kann: Alles und jeder sieht gleich aus. Nicht nur die Bilder ähneln sich, auch die Chat-Verläufe sind repetitiv.”
Ich bilde mir ja manchmal ein, dass wir 1980er-Jahrgänge besser mit Sozialen Medien umgehen können, da wir in der Kindheit noch ohne Internet und Soziale Medien aufgewachsen sind. Ich stelle mir vor, dass es für die nachfolgenden Generationen ungleich schwieriger wurde, einen gesunden Umgang mit den Apps zu finden. Wie gelingt es, mit Menschen in Kontakt zu treten, die Welt zu berühren und berührt zu werden, wenn man so vieles nur noch über den Bildschirm erlebt? Wenn kleine Kinder nur noch visuelle Erfahrungen machen, zum Beispiel Katzen nur noch auf dem Bildschirm sehen, statt sie zu streicheln, dann wird sich dies aus meiner Sicht zwangsläufig auf die Gehirnentwicklung auswirken. Vielleicht ist diese Auswirkung auch längst erkennbar: Erstmals scheinen die IQ-Werte (Intelligenzquotienten) weltweit zu stagnieren oder teilweise sogar zu sinken, während sie vorher jahrzehntelang immer weiter angestiegen sind. Kinder zeigen vermehrt keine altersentsprechende Spielentwicklung mehr, unter anderem weil sie zu wenig in der analogen Welt spielen. Es scheint, als würde Online-Verhalten und Zeit am Bildschirm uns zunehmend einschränken im echten Leben. Hat die sinkende Geburtenrate etwa auch damit zu tun?
Die Notwendigkeit, dem Leben zu dienen
Soziale Medien, Smartphones, Pornographie, Dating-Apps. Ich wollte mit diesen Beispielen ausdrücken, dass ich glaube, dass unsere Lebensbedingungen nicht nur durch Klimawandel und Zerstörung der Biodiversität schlechter werden, sondern eben auch psycho-sozial, kulturell, gesellschaftlich. Und ähnlich wie beim Klimawandel sind auch diese Probleme: menschengemacht. Die moderne Informationstechnologie ermöglicht viel Positives, wenn wir richtig damit umgehen. Gerade junge Menschen haben jedoch immer mehr Mühe, diesen richtigen Umgang zu finden. Und das hat nicht nur massive Auswirkungen auf ihre Gesundheit, sondern auch auf ihr Beziehungsverhalten, auf ihre Fähigkeit, überhaupt noch in gesunde Beziehungen zu anderen Menschen treten zu können.
Die Inhaber und Chefs der grossen Big-Tech-Konzerne gehören zu den reichsten Menschen der Welt, während viele Jugendliche aufgrund ihrer Apps vereinsamen. Die grossen Wirtschaftskapitäne verdienen immer mehr, während vielen Familien das Geld fehlt. Die Nahrungsmittelkonzerne erzielen satte Gewinne, während die Menschen immer mehr ungesunde hochverarbeitete Lebensmittel konsumieren. Die Pharmaindustrie schreibt Milliardengewinne, während die Zahl chronischer Erkrankungen zunimmt und die Krankenkassenprämien jedes Jahr steigen. Was ist hier eigentlich los? Ist das also der Fortschritt, den wir uns selbst gerne so stolz auf die Fahne schreiben? Wir brauchen eine Wirtschaft, die dem Leben dient - nicht ein Leben, das der Wirtschaft dient. Damit Eltern endlich mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können, statt noch mehr Zeit der Wirtschaft zu geben.
Die Weltbevölkerung wird schrumpfen. Vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht. Meiner Meinung nach sollte uns die sinkende Geburtenrate aber dennoch mehr zu denken geben, als dies aktuell der Fall ist. Denn damit rückt eine entscheidende Frage für unsere Gesellschaft unweigerlich in den Mittelpunkt: Was dient dem Leben? Wie dient der Mensch dem Leben? Wie dient das Leben dem Menschen? Und: Sind wir da eigentlich richtig unterwegs?
Passt dazu https://substack.com/@tomkuegler/note/c-53765421?r=d1dk4&utm_medium=ios&utm_source=notes-share-action
Danke Daniel. Wollen wir nebst der source Weiterbildung so einen offline (Mini) club ins Auge fassen Daniel?