
In meinem letzten Text habe ich darüber geschrieben, wie ich der Meinung bin, dass man die Verbundenheit mit der Natur nicht fühlen kann, wenn man im Wald Joggen oder Biken geht. Tempo oder Sportgerät in der Natur tragen eher zu Trennung bei, als dass sie mich mit der Natur verbinden würden. Oder zumindest vermindern sie die Chance, mich noch stärker als Teil der Natur zu erleben. Ich finde meine Aussagen in jenem Text nun plötzlich in einer merkwürdigen Verbindung zu einem sehr tragischen Ereignis, das sich in der Provinz Trentino in Norditalien Anfang April ereignet hat: Ein Jogger wurde im Wald von einem Bären getötet.
Ich bin mir bewusst, dass es pietätslos erscheinen könnte, wenn ich wenige Wochen nach diesem Vorfall versuche, damit meine Thesen zum Thema „Teil der Natur“ zu untermauern. Seit ich selbst Vater bin, kenne ich eine neue Form von Angst, die ich vorher nicht gekannt habe: Wie unglaublich schlimm es wäre, wenn eines meiner Kinder sterben würde. Meine Gedanken und mein Mitgefühl sind bei der Familie des jungen Mannes, der auf so tragische und unnötige Weise im Wald verstorben ist. Dennoch finde ich es wichtig, diesen Vorfall zu reflektieren und möchte im folgenden Text darlegen, weshalb ich nicht glaube, dass es böse Lebewesen, böse Tiere oder eben böse Bären gibt. Denn die Reaktion der lokalen Bevölkerung und Behörde auf den tragischen Vorfall und die Berichterstattung in den Medien lassen mich insofern ein wenig irritiert zurück, als dass sich darin für mich erneut das Muster wiederfindet, in welchem der Mensch die Natur dominieren möchte. Und das ergibt für mich einfach immer weniger Sinn.
Ich glaube, was hier vorgefallen ist, hat damit zu tun, dass es eigentlich nicht normal ist, dass ein Bär einem Jogger begegnet. Wie ist diese Situation wohl aus der Sicht des Bären verlaufen? Vielleicht hat er sich bedroht gefühlt, als plötzlich ein rennender Mensch um die Ecke kam? In einer der Berichterstattungen habe ich gelesen, dass aufgrund der lokalen Bärenpopulation in den Abruzzen Mountainbiken auf Wanderwegen verboten wurde. Ich vermute, das liegt daran, dass ein Bär von einem plötzlich auftauchenden Biker überrascht werden könnte - und wenn er nicht mehr fliehen kann, greift er an (getreu den drei Reaktionsmustern: Fight, Flight, Freeze). Als ich 2015 in Kanada war, wo die Präsenz von Bären etwas Normales ist, wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass man Geräusche machen soll, wenn man auf einer Wanderung um eine Ecke kommt. Etwa ein Lied singen oder in die Hände klatschen. Viele Wanderer hatten auch eine kleine Glocke am Rucksack. Ein Bär würde das dann hören und sich rechtzeitig aus dem Staub machen. Denn er sucht keine Konfrontation.
Im vorliegenden Fall im Trentino ist es gut möglich, dass die lokalen Behörden zu wenig unternommen haben, um die Bevölkerung bezüglich dem Umgang mit Bären zu sensibilisieren. Wenn nun aber der Abschuss des Bären gefordert wird (auch von der zuständigen Lokalbehörde), bin ich nicht sicher, ob das dann wirklich eine gute Lösung ist. Ist damit überhaupt etwas gelöst? Wahrscheinlich wird damit vor allem das Gefühl befriedigt, den Täter aus dem Verkehr gezogen zu haben. Aber kann ein Bär überhaupt ein „Täter“ sein? Kann ein Bär „böse“ sein?
Vergleichen wir die Reaktion auf den Unfall mit dem Bären doch mal mit anderen tödlichen Unfällen in der Natur. Wird auch Gerechtigkeit von den Behörden gefordert, wenn ein Mensch in einer Lawine oder auf einer Bergtour zu Tode kommt? Im Sinne von fehlenden Vorsichts- oder Schutzmassnahmen vielleicht durchaus. Ein wichtiger Unterschied liegt meiner Ansicht nach jedoch darin, dass uns mit dem Bären ein Täter geboten wird, den wir verfolgen können, während „die Natur“, „der Berg“ oder „das Wetter“ als Gefahrenquelle diese Personifizierung als Täter nicht zulassen. Es ist möglich, einen Bären auszuschalten, aber nicht möglich, das Wetter auszuschalten. Ich denke jedoch nicht, dass diese Zuschreibung als “Täter” dem Bären gerecht wird. Denn ein Bär verfolgt einfach instinktiv seine Überlebensstrategien. Die entscheidende Frage ist daher, wie sich seine Strategien mit unseren Strategien vereinbaren lassen. Ich denke, es geht hier also primär um Anpassungsfähigkeit.
Wie wir Menschen „Sicherheit“ schaffen wollen in der Natur, beschäftigt mich schon eine Weile. Wenn ich sehe, wie viele Waldgebiete in meiner Heimat im Berner Oberland in den letzten Jahren gerodet wurden aus „Sicherheitsgründen“ (z.B. entlang der Simmentalstrasse, entlang der Bahnlinie Spiez-Zweisimmen oder entlang von Flüssen und Bächen), dann macht mich das sehr traurig. Als Kind habe ich sehr oft an einem Bach in einem Waldstück nahe unserem Haus gespielt, der in den letzten Jahren wegen Hochwasserschutz massiv gerodet wurde. Als ich all die gefällten Bäume zum ersten Mal gesehen habe, musste ich fast weinen. Was tun wir da eigentlich? Weshalb greifen wir so massiv in die Natur ein?
Vor ein paar Monaten habe ich in der Nachhaltigkeitsbeilage „2050“ der NZZ am Sonntag einen Text mit dem irritierenden Titel „Mein Feind, der Baum“ gelesen. Im Text ging es um verschiedene Baumarten, welche Überlebensstrategien entwickelt haben, die auf andere Lebewesen fatale Auswirkungen haben können. Der Artikel bezog sich auf ein Buch mit dem Titel „Böse Bäume – wie sie töten, stehlen, Feuer legen“. Und über diese Darstellung, dass es böse Bäume gibt, habe ich mich sehr gewundert, um nicht zu sagen sehr geärgert. Denn ich glaube nicht, dass es böse Bäume gibt. So wie ich auch nicht glaube, dass es gute Bäume gibt. Bäume sind einfach und so wie jedes Lebewesen hat jede Art unterschiedliche Strategien entwickelt, um ihr Überleben bestmöglich zu sichern. Und ich verstehe nicht, was dies mit Nachhaltigkeit zu tun haben soll, wenn man Bäume als böse verurteilt.
Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, sprach davon, dass es in der Welt weder gut noch böse gibt, sondern dass Menschen einfach unterschiedliche Strategien wählen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, kann die Auswirkung dieser Strategieausübung auf andere Menschen natürlich besser oder schlechter sein, aber in ihrer Absicht ist sie weder gut noch böse. Ich teile dieses Weltbild von Rosenberg, dass es weder gut noch böse gibt - und ich bin mir aber auch bewusst, wie provozierend diese Haltung für viele Menschen sein kann. Denn der Aufwand ist natürlich viel geringer, jemanden als böse, als blöd, ignorant oder sonst was zu verurteilen, anstatt sich Gedanken über die Bedürfnisse hinter seinen Handlungen zu machen und damit eine empathische Perspektive einzunehmen. Aber ist automatisch richtig, was weniger Aufwand kostet? Ich bin jedenfalls zutiefst davon überzeugt, dass wir gemeinsam besser zusammenleben können, wenn wir versuchen, die Bedürfnisse eines Menschen zu erkennen, statt dessen Handlungen als böse abzustempeln. Das heisst mitnichten, dass wir alles verstehen und tolerieren müssen. Auch ich finde, es gibt ganz klar Handlungen, die nicht zu tolerieren sind. Aber wir können uns eher wieder verbinden und gemeinsam weitergehen, wenn wir unsere Bedürfnisse gegenseitig anerkennen. Und einander helfen, Strategien der Bedürfnisbefriedigung zu entwickeln, die für niemanden schädlich sind.
Bäume können das nicht, Bäume sind keine bewussten Wesen. Sie sind nicht in dem Sinne fähig zur Selbstreflexion und Perspektivenübernahme, wie wir Menschen das sind. Wenn wir Menschen Bäume als böse beschreiben, dann lernen wir daraus nichts über die Bäume, sondern darin offenbart sich lediglich, dass Menschen mit den Kategorien „gut/böse“ durch die Welt gehen. Ich persönlich glaube, die Natur kann nicht böse sein. Ein Baum kann nicht böse sein und auch ein Bär kann nicht böse sein. Wenn uns diese als böse erscheinen, dann kommt dieses Attribut aus unserer persönlichen Bewertung und nicht aus der „Natur der Sache“.
Vielleicht ist dir auch schon aufgefallen, dass Bären seit einiger Zeit nur noch rein technische Namen gegeben werden (der „Problembär“ im Trentino heisst JJ4), wahrscheinlich damit wir diese nicht Personifizieren oder Vermenschlichen. Wenn nun aber in den Medien geschrieben wird, dass auch der Bruder und Halbbruder des gesuchten Bären bereits „Problembären“ gewesen seien, dann wird durch die Angabe dieser Verwandtschaften ja eigentlich genau das trotzdem wieder gemacht: vermenschlicht. Auch die Darstellung als Täter (oder wahlweise auch als „Problembär“) tut genau das, weil Opfer-Täter-Denken etwas Menschliches ist. Ein weiteres Beispiel der Vermenschlichung ist mir in der Luzerner Zeitung begegnet, die in einem Artikel über den Bären in der ersten Zeile geschrieben hat: „Die Flucht ist zu Ende“ - als ob der Bär sich seiner Schuld oder drohenden Strafe bewusst sein und vor den Konsequenzen fliehen könnte. Natürlich hört die Vermenschlichung dann dort wieder auf, wo man eine Mutter von seinen Kindern trennt. Denn der Bär wurde mittlerweile gefasst: Es war ein Weibchen, das gemeinsam mit drei Jungen aufgefunden wurde. Die Jungen wurden wieder freigelassen, die Bärin gefangen genommen.
Wenn jetzt die Tötung des Bären und das Dezimieren des restlichen Bestandes in der Region (was konkret bedeutet: noch mehr Bären töten) gefordert wird, ist dies meiner Meinung nach erneut ein Ausdruck des Gefühls der Überlegenheit des Menschen über die Natur. Wir kontrollieren und dominieren die Natur, im Zweifelsfalle müssen wir dafür auch andere Lebewesen töten (dazu gehören übrigens auch Bäume). Wäre es nicht auch ein Weg, dass wir wieder lernen mit den Bären zusammenzuleben, mit ihnen einen Lebensraum zu teilen? In Kanada war ich auf jeder Wanderung in abgelegenen Gebieten ein wenig nervös und sehr vorsichtig, weil ich nicht plötzlich einen Bären überraschen und eine gefährliche Situation provozieren wollte. Wenn wir in Europa in unseren Wäldern Wildtiere und insbesondere Grossraubtiere möchten, dann müssten wir vielleicht auch eine ähnliche Vorsicht spüren, wenn wir auf ausgedehnte Wanderungen oder Ausflüge in die Natur gehen. Denn die Natur gehört nicht uns allein. Eigentlich gehört sie niemandem. Und allen. Gleichzeitig.
Vielleicht hilft hier ein kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns mal vor, wir Menschen wären in der Minderheit in einem Gebiet, das mehrheitlich von Bären besiedelt ist. Wenn nun ein Mensch einen Bären töten würde und dann 40 Bären diesen Menschen zwei Wochen lang jagen würden, und sie erst Ruhe geben, wenn der Mensch gefangen und wahrscheinlich sogar getötet wurde, wie wäre das dann für uns? Denn genau das war unsere Reaktion: Angeblich haben 40 Menschen diesen „Problembären“ zwei Wochen lang gejagt! Zum Glück sind Bären wahrscheinlich weniger rachsüchtiger als Menschen, ansonsten wäre ihre Gegenreaktion wohl verheerend. Dieses Gedankenexperiment bringt mich zu einer der wichtigsten Fragen für ein friedliches oder gar symbiotisches Zusammenleben mit anderen Lebewesen und dem ganzen Ökosystem: Wie fühlt es sich an, du zu sein? Wie fühlt es sich an, ein Bär zu sein? Wie war diese Situation für dich als Bären? Wie ist es, ein Baum zu sein? Und auch: Wie ist es, ein Jäger zu sein? Wie ist es, eine trauernde Mutter zu sein? Wenn wir uns solche Fragen stellen, dann kann Demut und Verbindung entstehen. Und ich glaube, dass uns dies langfristig weiterbringen wird, als die Trennung, Domination und Unterdrückung, die wir heute zumeist energetisieren. Wenn 40 Menschen zwei Wochen lang diesen Bären gejagt haben, inwiefern verbessert sich dadurch die Beziehung des Menschen zur Natur? Wurde durch diesen Aufwand etwas zur Symbiose verschiedener Lebewesen im gleichen Ökosystem beigetragen? Oder vielmehr die Abtrennung und Dominanz des Menschen untermauert?
Natürlich möchten wir Gefahren vermeiden und uns in Sicherheit fühlen. Aber vielleicht wird die Natur ja erst genau dadurch besonders gefährlich für uns, wenn wir versuchen, sie zu dominieren. Ein Fluss, dem wir seinen Lauf vorgeben, wird irgendwann über die Ufer treten. In einem Wald, in dessen Nähe wir eine Strasse oder eine Bahnlinie bauen, wird irgendwann ein Baum umfallen. In einem Gebiet, in dem Grossraubtiere leben, wird es früher oder später Kontakt mit Menschen oder von Menschen genutzten Tieren geben. Das ist der Lauf der Natur, das können wir nicht kontrollieren. Umso mehr wir diese Kontrolle aber suchen, umso stärker fällt vielleicht die Auswirkung einer Abweichung aus.
Ich glaube, wenn wir die Natur nicht mehr dominieren wollen, sondern uns stattdessen anpassen und versuchen, mit der Natur zu gehen, dann wird sie auch nicht mehr so gefährlich sein. Ich glaube, wenn wir nicht mehr mit Kategorien wie „gut und böse“ durch die Welt gehen, dann werden wir diese auch nicht mehr böse erleben. Und auch dann wir die Welt nicht mehr so gefährlich sein.
Vielleicht findest du meine Weltsicht naiv? Vielleicht stimmst du mir zu? Glaubst du, dass die Natur böse sein kann?
PS. Die Eltern des verstorbenen Joggers sprechen sich übrigens dafür aus, dass der Bär am Leben bleibt.
Es ist wohltuend, dass Daniel das Wildtier-Thema, das üblicherweise dem politischen Links-Rechts-Gezerre ausgesetzt ist, mal aus der Perspektive "Teil der Natur zu sein", beleuchtet. Er zeigt an einem
konkreten aktuellen Beispiel auf, was die mittelalterliche Psychologie (z.B. des Thomas von Aquin) schon betont hat: Gut und Böse sind keine absoluten, sondern relative Begriffe. Für Thomas gab
es das Böse gar nicht, es war nur ein Mangel an Sein. Das Urteil darüber, ob für ein urteilsfähiges menschliches Individuum ein Ereignis, eine Tat oder Handlung gut oder schlecht (böse) ist , hängt davon ab, was dieses sich wünscht, was es will, wonach es strebt. Das Erreichen des Begehrten, Gewünschten, Erstrebten ist " gut" und macht Freude, das Nichterlangen oder der Verlust des "Guten" ist "böse" und macht traurig. Der urteilsfähige Mensch ist eine Randerscheinung der Natur und der Evolution des Lebendigen. Das Leben beruht hauptsächlich auf Instinkt. Es ist eine extrem anthropozentrische Sicht, von einem bösen Bären zu reden. Diese anthropozentrische Sicht ist tief in der Spezies "homo sapiens" verankert. Daniel R. Hendrick zeigt in seiner Umweltgeschichte des Anthropozäns "Macht Euch die Erde untertan" auf, dass sich unsere Spezies vor allem im Kampf gegen die grossen Wildtiere durchgesetzt hat. Was dem altsteinzeitlichen Jäger das Überleben sicherte, kann dem Menschen des 21. Jahrhunderts die Lebensgrundlagen rauben. Die in der Moderne zu extremen Grössenverhältnissen vorangetriebene Spaltung zwischen Kultur und Natur ist eine dringend zu korrigierende Prämisse und sollte durch die Vorstellung "Teil der Natur" zu sein abgelöst werden. Wenn uns dies gelingt, werden wir auch Charles Darwin anders lesen. Das Kernthema seines Hauptwerkes "Die Entstehung der Arten" ist nicht der Kampf ums Dasein, sondern die Vielfalt des Lebens als Ergebnis einer unendlich gegenseitigen Vernetzung von Lebensprozessen. Vielleicht sehen wir ihn dann als einen der Gründerväter der Ökologie. Daniels Blog ist ein Ansporn, das Problem nicht wie bisher durch den Abschuss der Wildtiere zu lösen, sondern entsprechend unseren gewachsenen Ressourcen Wege zu finden, in denen das Weiterleben der grösseren Wildtiere mit den Schutzbedürfnissen der Menschen und seiner Nutz- und Haustiere vereinbar sind.
Neni.