Naturverbundenheit braucht echte Naturerfahrungen
Ein Bericht meiner Wanderung in das wilde Änziloch - und zur wilden Seite in mir.
In letzter Zeit wurden meine Texte immer länger und aufwändiger. Nun ist es mir gelungen, endlich mal wieder einen Text spontaner zu schreiben: Ein Grossteil der folgenden Zeilen habe ich gestern während einer Wanderung im Napfgebiet auf meinem Handy verfasst. Und: Erstmals verwende ich ausschliesslich selbst gemachte Bilder.
Der Wald, in dem sich die meisten Menschen in ihrer Freizeit bewegen, ist kein Wald im urtümlichen Sinne. Es ist Nutzwald, in anderen Worten: Forst. Daran ist grundsätzlich nichts auszusetzen, der Duft der Pflanzen und Bäume, das Vogelgezwitscher, das Rauschen der Blätter im Wind, das Grün - es wirkt sofort entspannend, beruhigt uns. Gestern war ich aber wieder einmal in einem Wald der ganz anderen Art: roh, wild, urtümlich und mit einer unbändigen Kraft.
Ich verbringe gerade eine kleine Auszeit in der wunderbaren Naturlodge von Pia und Stefan Vogel auf dem Breitäbnet in Romoos. Die Lodge, ein kleines Chalet auf ihrem Bio-Bergbauernhof auf knapp 1‘200 Metern über Meer, wurde mit Fichtenholz aus ihrem eigenen Wald in einer speziellen Vollholz-Technik ohne Leim, Nägel oder Schrauben erbaut. Das Chalet hat etwas Beruhigendes und hält, was auf der Homepage versprochen wird: “Weit weg von der Hektik und Rastlosigkeit des Alltags finden Sie in der Naturlodge Ruhe und tiefste Zufriedenheit.” Ich bin am Dienstagabend angereist und da der Wetterbericht für Mittwoch sehr gut aussah, habe ich entschieden, diesen Tag mit Wandern zu verbringen. Ich packte also am Vormittag meinen Rucksack und lief los in Richtung Napf.
Das Napfgebiet ist eine eigentümliche Landschaft mit unzähligen Hügeln und tiefen Gräben. Sofort zieht die Landschaft mich in ihren Bann, auf jedem Hügel eröffnet sich ein neues Bild einer wunderbaren Aussicht. Auf dem Napf angekommen geniesse ich die tolle Rundsicht, esse einen Apfel und breche bald wieder auf. Denn obwohl an diesem 1. Mai noch nicht so viele Leute da sind wie dann wahrscheinlich später im Jahr, sind es mir bereits zu viele. Der Einstieg in meinen Wandertag war gut, aber ich sehne mich nach einem Stück echter Natur, nach einem echten Wald. Denn auf dem Hinweg zum Napf sehe ich in den umliegenden Wäldern immer wieder abgeholzte Schneisen sowie vereinzelte Baumstrünke am Wegesrand. Ich vermute, dass die Region unter Käferbefall leidet, da an vielen Stellen das Rundholz einfach liegen gelassen wurde. Ich wohne selber in einem Holzhaus und wir verfeuern in unserem Speicherofen Brennholz. Ich verstehe also, dass der Wald bewirtschaftet werden muss, damit wir seine Funktion als Nutzwald bewahren können. Gleichzeitig spüre ich, dass mich diese Landschaft nicht vollends erfüllt, sondern immer wieder an die Kontrolle, ja die Dominanz des Menschen über die Natur erinnert. Auf der Stächelegg entschliesse ich daher, hinabzusteigen in das Änziloch, an einen Ort, wo nicht viele Menschen hingehen. Da werde ich wahrscheinlich heute sogar der einzige Mensch sein.
Beim Hof Hapfig verlasse ich den Wanderweg in Richtung Änziloch. Den Weg habe ich am Vorabend bereits recherchiert, da ich über diesen „Creux du Van des Mittellandes“ gelesen habe und dabei auf einen Wanderbericht von Franz Vogel gestossen bin, der geführte Touren in die wilde und sagenumwobene Schlucht anbietet. Ich verlasse also den Wanderweg und nach knapp 10 Minuten blockiert eine umgestürzte Tanne den Weg. Was soll jetzt das bedeuten? Soll ich besser wieder umkehren und nicht in den Graben hinabsteigen? Ich stelle mir vor, dass die umgestürzte Tanne ungebetene Gäste fernhalten will und prüfe daher gut, ob ich wirklich Willkommen bin. Nach kurzem Innehalten entscheide ich mich, den Weg weiterzugehen und siehe da: Was zuerst wie ein Hindernis aussah, entpuppt sich als Eingangstor in eine zauberhafte, wilde Welt!
Nach ein paar Metern erreiche ich eine einsame Hütte, Glassplitter von einem zerbrochenen Fenster weisen darauf hin, dass in diesem Frühling wohl noch niemand da war. Plötzlich flattert wenige Meter über mir ein grosser Vogel vom Haus weg. Ob er wohl die Scheibe im Dachstock zerbrochen und sich da eingenistet hat? Ich schaue mich ein wenig um und suche die Stelle, wo der Weg in den Graben weitergeht. Hinter dem Haus sehe ich eine Gämse, sie springt davon, als sie mich erblickt. Diese beiden Tierbegegnungen zeigen mir, dass ich mich richtig entschieden habe und so mache ich mich auf den Weg, hinunter in den Graben.
Der Weg ist gut sichtbar, immer wieder muss ich aber über umgestürzte Bäume steigen, bis ich schliesslich das Rauschen des Wassers hören kann. Ich bin also bald unten. Der Weg wird unwirtlicher, ich entdecke ein Seil, das hier jemand befestigt hat und steige hinunter ins Bachbett. Ab hier gibt es keinen Weg mehr, ich folge dem Wasser stromaufwärts, so wie ich es in einer Tourenbeschreibung gelesen habe. Wann war hier wohl vor mir zuletzt ein Mensch? Ich erkenne nirgends Spuren und stelle mir vor, dass ich vielleicht sogar die erste Person bin, die in diesem Jahr nach der Schneeschmelze das Änziloch begeht. Das Bachbett wird jeden Frühling wieder anders aussehen. Unzählige Bäume liegen quer im Bach, Schwemmholz und viele abgetragene Stellen in der Nagelfluh zeugen von der Kraft des Wassers. Ich gehe langsamer als sonst, suche mir meinen Pfad sehr bewusst aus, setze meine Füsse vorsichtig auf Steine, ziehe mit den Händen vorsichtig an Wurzeln und Ästen, um zu prüfen, ob sie mich halten, ob ich mich an ihnen halten kann. Es ist nicht sehr gefährlich, aber wenn ich ausrutsche und mir einen Fuss verknackse, mich an einem hervorstehenden Ast aufschürfe oder schon nur nasse Füsse kriege, wird die Rückkehr mühsam. Ich prüfe mein Handy: kein Empfang. Ich gehe noch ein wenig langsamer, noch ein wenig vorsichtiger. Ich beobachte nochmal kurz den Himmel, das Wetter sollte halten. Wenn das Wasser möchte, könnte es mich im Nu wegspülen. Die vielen grossen Steine und Baumstrünke im Bachbett zeugen davon. Mir wird bewusst, dass ich hier definitiv nur zu Gast bin und mich entsprechend benehmen muss. Ich spüre Demut, aber auch eine leichte Aufregung, eine Abenteuerlust. In meiner Kindheit habe ich unzählige Stunden mit Freunden im Wald verbracht, oft sind wir ein Bachbett hochgestiegen und haben geschaut, wie weit wir kommen. Ich spüre die Kraft der Natur, aber auch diese Neugier als kindliche Kraft in mir. Ich habe über das Änziloch gelesen, dass es ein Kraftort sei. Aber was genau spüren wir eigentlich an einem Kraftort? Ich glaube, es ist die Kraft in uns, die an solch wilden Orten aktiviert wird. Eine animalische Kraft, die uns sagt: Wir gehören dazu, wir sind Teil der Natur.
Ich gehe noch ein wenig weiter, überwinde nochmal zwei Stellen, wo ich mich bereits gefragt habe, ob ich nun wohl besser umkehren soll. Nach der letzten Kraxelei ist klar: Nun kann ich nicht mehr weiter. Vor mir liegt so viel Schwemmholz aufgetürmt und dahinter ein kleiner Wasserfall, den ich nicht ohne nass zu werden überwinden könnte. Plötzlich kommt die Sonne nochmal hinter den Wolken hervor und zeigt mir: dies ist mein Rastplatz. Ich esse mein Picknick, geniesse die Stille. Geniesse den Ort. Am Hang gegenüber erkenne ich einen umgestürzten Baum, der über den Abhang nach unten ragt und an seinem Wurzelwerk von anderen Bäumen gehalten wird. Was wäre, wenn der Baum plötzlich losbrechen würde? Wäre ich in Gefahr? An den moosbewachsenen Stellen erkenne ich, dass der Baum schon lange so hängt. Daher ist die Wahrscheinlichkeit klein, dass er auf mich herunter krachen wird. Aber mir wird nochmal klar: Hier ist die Natur in Bewegung. Der Berg lebt, der Wald lebt und wenn nicht dieser Baum herunterfällt, dann könnte an einer anderen Stelle etwas anderes herunterfallen und mir plötzlich den Rückweg versperren. Also entscheide ich mich, nicht allzu lange zu verweilen und mache mich auf den Rückweg. Als Abschiedsgruss hinterlasse ich ein kleines Steinmanndli und frage mich, wer das wohl entdecken wird. Ich spüre: Mit diesem Menschen fühle ich mich mehr verbunden als mit all den Menschen, mit denen ich vor ein paar Stunden die Aussicht auf dem Napf geteilt habe.
Viele Menschen verbringen ihre Freizeit in der Natur. In der Regel handelt es sich dabei aber nicht um eine wilde, urtümlich Naturlandschaft, sondern um eine Kulturlandschaft, die vom Menschen gepflegt wird. Mehr und mehr wird diese Landschaft vermarktet, in den Bergen werden „Erlebnisse“ verkauft, weil die Landschaft allein nicht mehr genügt, um immer noch mehr Leute anzulocken. Dass die Menschen dabei ihre Naturverbundenheit mehr und mehr verlieren, ist eigentlich nachvollziehbar (siehe auch meinen früheren Text zu Erlebnissen im Wald). Daher frage ich mich: Ist das, was ich im Änziloch erlebt habe, vielleicht die Art von Naturerfahrung, die uns fehlt, um unsere Naturverbundenheit wieder zu stärken, um uns wieder mehr als Teil der Natur zu fühlen?
Ich spüre, wie diese Naturerfahrung meine Sinne schärft: Ich höre mehr, ich sehe mehr, ich sehe anders, ich fühle mich kleiner, ich füge mich ein. Und das Beste: Diese Erfahrung ist frei verfügbar. Ich brauche lediglich ein paar gute Schuhe. Immer häufiger sehe ich beim Wandern jedoch Menschen, die top ausgerüstet sind. Ihre farbige Funktionskleidung sieht aus wie neu, als wäre sie noch nie benutzt worden. Immer mehr Menschen wandern mit Stöcken, immer häufiger trifft man in den Bergen auf E-Mountainbikes. Meiner Ansicht nach sind dies die Folgen der Vermarktung der Natur und der Naturerlebnisse. Also auch hier: Etwas, das frei verfügbar ist, wird verknappt, oder: ökonomisiert. Was die Ökonomie suggeriert: Zum Wandern brauchst du Funktionskleidung, diese Tour schaffst du ohne Akku nicht, dein Bike solltest du mal wieder erneuern, diese Ski sind nicht mehr die neusten, mittlerweile gibt es etwas Besseres - oder in anderen Worten: du verpasst gerade etwas. Diese Ausrüstungen und Gerätschaften sind meiner Meinung nach Teil des Narrativs, dass der Mensch getrennt von der Natur lebt und diese beherrscht, ja bezwingt. Und weil das Imperativ des Wirtschaftswachstums es verlangt, dass immer mehr Güter und Dienstleistungen verrechnet werden, wird auch die Natur verkauft. Verkauft in Form von „Erlebnissen“. Dabei braucht es das alles gar nicht. Denn die Naturerfahrung ist meiner Meinung nach umso intensiver, je langsamer, bescheidener und einfacher wir unterwegs sind. Was ich vermute: Das ist leider nicht im Sinne der Konsumkultur. Denn was gratis ist, ist sicher nicht viel Wert. Und zudem will der Konsum auch nicht, dass die Menschen echte Naturerfahrungen machen. Denn mit einer tieferen Naturverbundenheit würden sie nämlich aufhören, unnütze Dinge zu kaufen. Sie würden aufhören, zu viel zu konsumieren. Sie würden aufhören, die Konsumkultur zu füttern.
Bereits in einem meiner - aus meiner Sicht - bisher wichtigsten Texte “Die Verkündung einer alten Religion” habe ich die Aussage gemacht, dass sich Naturverbundenheit nicht vom Schreibtisch aus stärken lässt. Wir brauchen dafür direkte Erfahrungen in der Natur. Die Wanderung ins Änziloch hat mir einmal mehr gezeigt, dass diese Naturerfahrung in einer wilden Landschaft viel intensiver sein kann als auf einer kultivierten Bergwiese. Und für mich ist es ein wichtiger Teil meiner “Achtsamkeits-Praxis”, dass ich solche Wanderungen allein unternehme. Natürlich verbringe ich sehr gerne Zeit in der Natur mit anderen Menschen, am liebsten mit meiner Frau und meinen Kindern. Wenn ich allein in die Natur gehe, kann ich mich aber nochmal viel stärker auf sie einlassen. Dann stehen nicht die Beziehungen zu den anderen Menschen im Mittelpunkt, sondern meine Beziehung zur Natur.
Auch eine Wildtierbegegnung ist viel intensiver, wenn man diese allein macht. Im Sommer 2022 habe ich eine Wanderung vom Pilatus via Widderfeld ins Eigenthal unternommen und mich beim Start bei der Bergstation genervt, dass der Weg derart breit und planiert ist. Es gab auch einige Leute, die denselben Weg gewählt hatten und erst nach dem Tomlishorn war ich allein. Der Weg wurde plötzlich unbefestigt, ich atmete auf, marschierte um einen Felsblock und da stand er: Mitten auf dem Weg, ein Steinbock! Ganz ruhig stand er da, schaute mich an, kein anderer Mensch war da, kein anderes Tier, nur er und ich. Mir kam es vor, als ob er mich begrüssen wollte: „Herzlich Willkommen in der Natur, jetzt hast du es geschafft!“ Mich hat diese Begegnung sehr berührt. Ich gebe zu: Ohne meinen Ärger über den befestigten Weg vom Pilatus zum Tomlishorn wäre mir diese Begegnung wohl nicht so eingefahren. Aber auch gemeinsam mit anderen Menschen wohl nicht. Nach ein paar Minuten gab der Steinbock den Weg frei, kletterte den Hang hoch, ich schaute ihm nach und habe mich verabschiedet mit einem Dank, dass ich in seiner Landschaft zu Gast sein darf. Diese Wanderung ist mir mehr in Erinnerung geblieben als viele Wanderungen davor und danach.
Für mich ist es also am schönsten, wenn ich meine Beziehung zur Natur an einem Ort pflegen kann, wo ich alleine bin und wo vielleicht generell nicht so viele Leute hingehen. Wo es noch ein wenig wilder ist. Und je langsamer, je einfacher ich unterwegs bin, umso intensiver erlebe ich die Naturerfahrung, umso stärker spüre ich die Naturverbundenheit.
Und wie ist das bei dir, wie pflegst du deine Beziehung zur Natur? Wann fühlst du dich besonders verbunden?
Genau um dieses Paradox geht es. Mich interessiert, wie sehr wir Natur gestalten können und in Zivilisationsräumen Naturerfahrung ermöglichen können.
Ich möchte überhaupt nicht den Wert der Erfahrung für Dich in Frage stellen. Was bei mir Widerstand auslöst, ist die Annahme, dass andere auch solche Erfahrungen machen müssten, damit es uns gelingt, eine Wende hinzubekommen. Und vielleicht sagst Du dies nicht. Es schwingt für mich aber mit.
1. Dies will andere animieren oder ihnen etwas aufdrängen - machen wir Umweltbewussten dauernd. Löst meistens vor allem Widerstand aus.
2. Macht mir die Annahme Angst, da es nicht realistisch ist, dass jetzt alle aufmachen für solche Erfahrungen. Also scheitern wir.
3. Bin ich mir nicht sicher, ob es stimmt. Vielleicht sind andere Menschen ganz anders und ganz andere Dinge animieren sie zu Verhaltensänderungen.