Die Verkündung einer alten Religion
Wir brauchen nicht mehr Technologie, sondern mehr Animismus.

Was bedeutet es wirklich, nicht nur nachhaltig, sondern regenerativ zu leben? Sich voll und ganz als Teil der Natur in das sensible Ökosystem einzufügen, sich einzuordnen, einen Beitrag zu leisten, etwas zu nehmen und etwas zurückzugeben? Meiner Meinung nach braucht es dafür einen Paradigmenwechsel: Wir müssen unsere aktuellen Glaubenssätze weiterentwickeln und uns spirituell wieder mit der Natur verbinden. Mir ist bewusst, dass es je nach Perspektive fragwürdig erscheinen mag, kurz vor Weihnachten, einem der wichtigsten christlichen Feiertage, einen Text über eine neue resp. alte Religion zu schreiben. Man könnte aber auch sagen, dass dies genau der richtige Zeitpunkt ist: Die dunkle Jahreszeit und die besinnlichen Tage laden ein zum Herunterfahren, zur Stille, zur Kontemplation. Daher veröffentliche ich diesen Text, der durchaus nicht nur als Gesellschafts-, sondern auch als Religionskritik gelesen werden kann, sehr bewusst ein paar Tage vor Weihnachten.
Die unbewusste Ersatzreligion
In meinem letzten Text habe ich von der spirituellen Krise geschrieben, in der wir uns meiner Meinung nach aktuell befinden. Damit meine ich nicht, dass die Landeskirchen stetig Mitglieder und damit laufend an Einfluss verlieren. Die Krise zeigt sich meiner Meinung nach darin, dass sehr viele Menschen gar keinen spirituellen Halt mehr haben. Die Abkehr vom christlichen Glauben und vom christlichen Gott führt je länger je mehr dazu, dass wir Menschen uns selbst als Götter betrachten - und uns auch so zu verhalten versuchen. Auf den zweiten Blick wird für mich dabei deutlich, dass wir uns mit dem Lossagen vom Christentum nicht vom Glauben an sich entfernt haben, sondern dass wir uns vielmehr einer Ersatzreligion zugewandt haben. Ich denke, im Kern liegt ein grosses Problem unserer heutigen Zeit darin, dass wir das Gefühl haben, wir hätten uns vom Glauben emanzipiert, uns durch die Aufklärung über die Religionen erhoben, ohne dass wir merken, dass wir mit dem Wissenschaftsglauben und dem Fortschrittsglauben einfach einer neuen Religion beigetreten sind. Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin natürlich nicht per se gegen technologischen Fortschritt oder gegen Wissenschaft. Ich bin als Dozent an mehreren Hochschulen sogar selbst Teil des Wissenschaftsbetriebs. Aber ich finde es bedenklich, dass allzu oft unhinterfragt an die Wissenschaft und an technologische Lösungen geglaubt wird. Und genau darin sehe ich religiöse Züge.
Der Glaube an die Wissenschaft und an den technologischen Fortschritt als alleiniger Gradmesser führt dazu, dass der Mensch sich selbst auf den Sockel stellt, sich selbst und seine eigenen Errungenschaften anbetet. Ich denke, es hat uns eigentlich sehr gutgetan, uns an eine Einheit zu halten, die grösser ist als wir, ihr Opfer zu erbringen und in Demut zu begegnen. Wenn es nun diese höhere Einheit im Glaubenssystem nicht mehr gibt, dann führt dies zu einer Entkoppelung, einer Loslösung, Trennung des Menschen von seiner Umgebung. Die Einstellung „Es gibt keinen Gott, wir sind Gott“ ermöglicht, dass wir uns alles erlauben können. Wir denken, wir können über den Planeten verfügen, wie es uns beliebt. Wirtschaftliche Interessen dominieren unser Handeln, technologische Lösungen prägen unseren Alltag. Die negativen Auswirkungen dieses Glaubenssystems werden jedoch immer deutlicher. Was wir „Klimawandel“ nennen, ist vielleicht vielmehr der Anfang der Zerstörung unserer eigenen Lebensgrundlage. Die in fast der gesamten westlichen Welt sinkenden Geburtenraten sind vielleicht Ausdruck eines beginnenden Rückzugs der Menschen aus dem Leben, ein Rückzug aus dem Prozess des Werdens.
Der Gott von Spinoza
Der Beginn dieser Entfernung liegt meiner Meinung nach nicht in der oft zitierten Bibelstelle „Macht euch die Erde untertan“. Nicht Gott hat uns befohlen, alles zu dominieren, sondern wir haben uns bereits viel früher von dem abgewendet, was ich heute noch Gott nennen würde. Doch was ist das? Was ist Gott für mich? Wenn Albert Einstein gefragt wurde, ob er an Gott glaubt, hat er jeweils geantwortet: “Ich glaube an den Gott von Spinoza”. Wenn man Spinoza nicht kannte, tappte man aber leider im Dunkeln. Baruch de Spinoza war ein niederländischer Philosoph und einer der Begründer der Bibel- und Religionskritik im 17. Jahrhundert. Das Gottesverständnis von Spinoza ist unter anderem mit folgendem Zitat überliefert:
“Gott hätte gesagt:
Hör auf zu beten und dir auf die Brust zu schlagen!
Was ich will, ist, dass du in die Welt hinausgehst und dein Leben geniesst.
Ich möchte, dass du dich freust, singst, Spass hast und dass du alles geniesst, was ich für dich geschaffen habe.
Hör auf in diese dunklen, kalten Tempel zu gehen, die du selbst gebaut hast und von denen du sagst, dass sie mein Haus sind!
Mein Haus ist in den Bergen, in den Wäldern, den Flüssen, den Seen, den Stränden. Dort lebe ich, und da drücke ich meine Liebe zu dir aus.
Hör auf mir die Schuld für dein elendes Leben zu geben; ich habe dir nie gesagt, dass mit dir etwas nicht stimmt oder dass du ein Sünder bist oder dass deine Sexualität etwas Schlechtes ist!
Sex ist ein Geschenk, das ich dir gegeben habe und mit dem du deine Liebe, deine Ekstase, deine Freude ausdrücken kannst. Also gib mir nicht die Schuld für alles, woran sie dich glauben lassen.
Hör auf, angeblich heilige Schriften zu lesen, die nichts mit mir zu tun haben. Wenn du mich nicht lesen kannst in einem Sonnenaufgang, in einer Landschaft, im Blick deiner Freunde, in den Augen deines Sohnes…
…wirst du mich in keinem Buch finden!”
Baruch de Spinoza (1632-1677)
Diese Zeilen fühlen sich für mich sehr stimmig an. Ich fühle ähnlich wie Einstein, respektive wie Spinoza. Ich glaube nicht, dass Gott mir in irgendeinem Tempel begegnen will, sondern Gott ist überall und überall drin: in den Bergen, in den Wäldern, in den Seen, in der Liebe meiner Frau, in den Augen meiner Kinder. Gott ist für mich keine Einheit, die über uns wacht und bestimmt, sondern eine Kraft, die alles zusammenhält. Die Kraft, die Samen spriessen, Leben gedeihen lässt, der Prozess des Werdens, die Energie, welche die Zyklen der Natur immer wieder von neuem beginnen lässt. Gott ist Natur.
Die Gemeinsamkeit der Weltreligionen
Wenn Gott eigentlich die Kraft der Natur ist, von was haben dann die ganzen Weltreligionen gesprochen? Ich glaube, dass alle Religionen eigentlich versuchen, dieselbe Kraft der Natur zu fassen. Sie beziehen sich alle auf diese schöpferische Energie und versuchen, sie zu beschreiben und zu strukturieren. Dabei ziehen sie jedoch ganz unterschiedliche Schlüsse und erlassen entsprechend ganz unterschiedliche Anleitungen, wie “das gute Leben” zu gestalten sei. Was mich beim Thema Religion fasziniert, ist denn auch, dass es all diese verschiedenen Religionen gibt, dass so viele Menschen etwas Unterschiedliches glauben können, und die Gläubigen dennoch davon überzeugt sind, dass nur ihr Gott der wahre Gott ist. Nur schon rein die Tatsache, dass es mit den verschiedenen Religionen so viele verschiedene “einzig wahre Götter” gibt, beweist für mich, dass es diese Götter eigentlich nicht geben kann. Da ich aber auch nicht behaupten möchte, dass sich all diese Menschen und all diese Religionen komplett irren, denke ich, dass jede Religion einen wahren Kern hat, dass alle Religionen etwas teilen und eigentlich im Kern vom Gleichen sprechen. Und dass dies der Ort ist, wo wir uns treffen sollten.
Ken Wilber zitiert in seinem Buch “A Theory of Everything” Huston Smith’s “Forgotten Truth: The Common Vision of the World’s Religions” und verwendet eine interessante Abbildung, um die Gemeinsamkeiten der grossen Weltreligionen darzustellen:

Ich denke, die Gemeinsamkeiten, die in dieser Grafik dokumentiert sind, verdeutlichen, dass es einen gemeinsamen Bezugspunkt für alle Religionen geben muss. Und für mich kommt hier eigentlich nur die Kraft der Natur, die Kraft des Lebens in Frage.
Die spirituelle Leere des Atheisten
Vor ein paar Wochen habe ich die Geschichte von Ayaan Hirsi Ali gelesen, die als Muslima in Somalia aufgewachsen ist, dann aufgrund dessen, was sie mit dem Islam erlebt hat, zur Atheistin wurde und sich nun dem Christentum zugewandt hat. Sie beschreibt in einem Essay, wie ihrer Meinung nach die spirituelle Leere im Atheismus zu wenig Kraft entwickeln könne, um Menschen hinsichtlich der Herausforderungen unserer Zeit zu vereinen. Und dass sie sich daher wieder einer Religion zugewandt hat. Michael Shermer, ein bekennender Atheist, antwortet ihr auf seinem Substack, dass es gar nicht der Atheismus sei, der diesen Herausforderungen etwas entgegenstellen sollte, sondern dass diese Funktion vom wissenschaftlichen Naturalismus (“Scientific naturalism”) und vom aufgeklärten Humanismus (“Enlightenment humanism”) wahrgenommen werde. Schliesslich hätten diese beiden die moderne Welt gebaut.
Mit dem Einfluss von Wissenschaft und Aufklärung auf die moderne Welt mag er Recht haben, jedoch verdeutlicht Shermer hier meiner Meinung nach, dass ein Atheist eben sehr wohl einen Glauben hat, vielleicht sogar einen Glauben braucht. Ayaan Hirsi Ali beklagt im Atheismus die spirituelle Leere und wendet sich daher wieder einer Religion zu, während Shermer Wissenschaft und Aufklärung als Antwort für diese spirituelle Leere anbietet. Sagt er damit nicht eigentlich, dass Wissenschaft und Aufklärung somit auch etwas Spirituelles, also eine Art Ersatzreligion ist?
Was ist der Unterschied zwischen all den Weltreligionen, die für sich die Wahrheit beanspruchen und der Wissenschaft, die für sich die Wahrheit beansprucht? Es gibt grosse Unterschiede in den methodischen Zugängen zur Erkenntnisgewinnung, klar. Aber sie alle sind niemals frei von Irrtum. Objektivität gibt es nur in einer objektivierten Weltsicht. Wie jedes andere System der Erkenntnistheorie basiert auch die Wissenschaft auf Glaubenssätzen, zum Beispiel auf dem materialistischen Weltbild oder dem Zahlenparadigma. Für mich ist dies eigentlich auch gar nicht das Problem. Ich finde auch nicht, dass wir die wissenschaftlichen Aktivitäten einstellen sollten. Mitnichten. Mein Anliegen ist, dass wir den Glauben an die Wissenschaft und den Fortschritt als einen Glauben erkennen. Ich denke, dass uns dies zu vielversprechenderen Lösungen führen wird, als wenn wir in einem Wahrheitsanspruch der wissenschaftlichen und technologischen Sicht verharren. Denn damit verharren wir in der Selbstüberschätzung, was uns früher oder später einholen wird.
Der Auszug der Götter aus der Natur
Der Anfang dieser Überhöhung der wissenschaftlichen Methoden und damit der menschlichen Selbstüberschätzung dürfte vor ca. 3000 bis 4000 Jahren liegen. Zu dieser Zeit sind in unserer Deutung die Götter aus den Steinen, aus den Flüssen, aus den Bäumen, aus den Bergen ausgezogen und haben sich im Himmel angesiedelt. Aus den animistischen Kulturen entstanden zuerst polytheistische und später monotheistische Religionen. Yuval Noah Harari beschreibt diesen Übergang in seinem Bestseller “Eine kurze Geschichte der Menschheit” wie folgt:
"Für Animisten war der Mensch nur eines von vielen Lebewesen, die auf der Erde lebten. Polytheisten sahen die Welt dagegen zunehmend als Spiegelbild der Beziehung zwischen Göttern und Menschen. (...). Der Polytheismus hob also nicht nur die Götter auf den Thron, sondern auch den Menschen."
Yuval Noah Harari
Animisten lebten demnach in Verbindung mit den anderen Wesen. Sie glaubten, dass sowohl lebende Wesen als auch unbelebte Objekte eine Seele haben (“Allbeseeltheit”). Erst mit der landwirtschaftlichen Revolution entstand ein Überlegenheitsgefühl und folglich eine Trennung von den anderen animierten Wesen. Die ersten Bauern versuchten Pflanzen und Tiere zu beherrschen, und mussten dabei mit der Dissonanz leben, dass diese sich nie vollends beherrschen lassen würden. Daher wurden die ersten Götter nicht zufällig bezüglich Fruchtbarkeit und Herdenschutz angefragt. In gewissem Sinne waren im Polytheismus die Naturkräfte also noch integriert (z.B. Poseidon ist gemäss Philipp Blom eigentlich die Kraft des Meeres). Wie Harari schreibt, gingen Polytheisten jedoch zunehmend davon aus, dass sie als einzige Wesen mit diesen Kräften in Kontakt stehen. Und mit dem Monotheismus wurde der Mensch schliesslich zum alleinigen Herrscher des Irdischen gemacht.
Es war somit nicht der biblische Ausspruch „Macht euch die Erde untertan“, mit dem unsere Trennung von der Natur begann, sondern dies geschah bereits sehr viel früher. Die Entfernung der Götter aus der Natur ist symptomatisch für unsere Haltung, dass wir nicht Teil der Natur sind. Wenn wir Gott nicht mehr in der Natur sehen, sind wir folglich als Kinder Gottes ebenfalls nicht mehr Teil der Natur. Spinoza schlägt mit seinem Gott eine andere Sicht vor: eine lebendige Erde, in der unzählige Verbindungen zwischen den lebendigen Elementen bestehen, ein kostbares Ökosystem, in welchem alles miteinander verbunden ist.
Wenn wir die Trennung zwischen dem Menschen und der Natur aufheben, dann gibt es auch keine Objektivierung mehr. Das heisst, es gibt keine Subjekte mehr (=Menschen), die in einem Bereich handeln und auf Objekte (=Natur) einwirken. Ohne Objektivierung gibt es nur noch Subjekte. Alle sind gleichwertige Elemente des kostbaren Ganzen.
Die Genialität indigener Völker
Ich habe den Eindruck, dass wir Menschen nicht wirklich regenerativ als Teil der Natur leben können, solange wir nicht unsere Götter wieder in die Natur einfügen, solange wir nicht wieder beginnen, die Natur anzubeten. Wir müssen trauern, wenn ein Baum gefällt wird, wir müssen trauern, wenn ein Fluss austrocknet, wir müssen trauern, wenn ein Vogel stirbt. Ich habe bereits darüber geschrieben, dass unsere Grosseltern vielleicht unbewusst das nachhaltigere Leben gelebt haben, als wir das heute tun. Für wirkliches „Regeneratives Wirtschaften“ oder “Regeneratives Leben” müssen wir aber wohl noch viel weiter zurückschauen in unserer Geschichte. Der deutsche Biologe und Philosoph Andreas Weber hat 2018 ein Buch veröffentlicht mit dem wunderbaren Titel “Indigenialität”. Das Wortspiel: Er schreibt über die Genialität indigener Völker und indigenem Denken. Und er sieht diese Indigenialität als Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit.
Indigene Menschen haben als animistische Kulturen die Natur als lebendig betrachtet und angebetet. Teilweise ist es ihnen sogar gelungen, diese Lebensweise bis heute zu bewahren. Weber erwähnt zum Beispiel die beiden Tugenden der Aborigines:
Beschädige niemals Schöpfung.
Behindere nie den heiligen Zweck eines anderen Wesens.
Diese Worte berühren mich. Und sie machen mich traurig, wenn ich daran denke, dass unsere Gesellschaft aktuell vielmehr nach der Tugend zu leben scheint “Behindere nie den heiligen Zweck der Wirtschaft”. In einer indigenen Sichtweise beruht alles auf Gegenseitigkeit, alles ist miteinander verbunden (“Ich bin, weil du bist” statt “Ich bin ich und du bist du”). Andreas Weber schreibt in diesem Zusammenhang von “Fruchtbarkeit in Gegenseitigkeit”. Es ist die freiwillige Gabe, die den Kosmos fruchtbar macht und das können wir ökologisch auch jeden Tag erleben: die Sonne spendet Energie, die Bäume spenden Früchte, die Quellen spenden Wasser.
Für das kapitalistisch geprägte westliche Denken mag Gegenseitigkeit fremd klingen. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir unseren Planeten nur gesund halten, unsere Lebensgrundlage nur bewahren können, wenn wir der Natur wieder in dieser Verbundenheit und Gegenseitigkeit begegnen. Es reicht nicht, ein wenig “grüner” oder “nachhaltiger” zu leben. Wir sind gefordert, unser Denken und Fühlen zur Natur komplett neu einzustellen. Erst wenn wir uns wieder voll und ganz als Teil der Natur erleben, werden wir wirklich zur Regeneration des Planeten beitragen können. Und genau dies ist aus meiner Sicht die grosse spirituelle Herausforderung unserer Zeit. Wir müssen uns nicht einer neuen Religion zuwenden, sondern einer alten. Ich bin der Meinung, dass wir von indigenen Völkern, von animistischen Kulturen viel mehr darüber lernen können, wie es gelingt, die Welt lebenswert und lebensspendend zu gestalten, als von Ingenieuren, Wissenschaftlern und Computertechnologen. Ich glaube an die Indigenialität.
Indigene Muster für die heutige Zeit
Wie eine indigene Haltung im Alltag gelebt werden könnte, wird wunderbar beschrieben in den Grundsätzen der “Ehrenvolle Ernte”. Diese Regeln waren für die nordamerikanische Urbevölkerung ein Richtmass, damit die eigenen Bedürfnisse so gestillt werden können, dass auch die anderen ihre Bedürfnisse immer noch zu erfüllen vermögen. Andreas Weber erläutert diese einfachen Regeln in “Indigenialität” wie folgt:
Stell dich vor. Zeige dich als der, welcher kommt und um Leben bittet.
Frage um Erlaubnis, bevor du nimmst. Folge deiner Intuition, ob es richtig ist, diese Pflanze/dieses Tier zu töten bzw. diesen Gefallen eines anderen in Anspruch zu nehmen. Richte dich nach der Antwort, die du empfängst.
Nimm nur, was du brauchst.
Nimm nur, was geschenkt ist.
Nimm nie mehr als die Hälfte. Lass etwas für die anderen zurück.
Ernte auf eine Weise, die Leiden minimiert.
Benutze, was du genommen hast, mit Achtung. Verschwende niemals, was du genommen hast.
Bedanke dich für das, was du genommen hast.
Erhalte die, die dich erhalten, und die Erde wird für immer überdauern.
Wisse die Gepflogenheiten derer, die für dich sorgen, so dass du für sie sorgen kannst.
Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber wenn ich diese Sätze lese, dann habe ich den Eindruck, dass sie aktueller sind denn je. Wenn ich auf diesem Blog auch schon darüber geschrieben habe, dass wir Menschen uns zurücknehmen sollten, dann bringen diese Sätze diese Haltung für mich sehr schön zum Ausdruck. Wir müssen nicht alles nehmen, was wir können. Wir brauchen nur so viel, wie wir brauchen. “Nimm nur, was du brauchst” kann eine Einladung zum Konsumverzicht sein. “Benutze, was du genommen hast, mit Achtung” kann bedeuten, seine Gebrauchsgegenstände sorgsam zu pflegen und wieder zu reparieren, falls sie kaputt gehen. “Bedanke dich für das, was du genommen hast” und “Nimm nie mehr als die Hälfte” laden ein, weniger nach Reichtum zu streben und in Dankbarkeit zu leben mit dem, was wir bereits haben.
Viele weitere Übertragung dieser alten Regeln in die heutige Zeit sind denkbar. Gerade wenn wir uns in der Natur “bedienen” und die von uns so genannten “Rohstoffe” entnehmen, könnten diese Regeln einen sehr grossen Unterschied machen. Denn es geht ja nicht darum, dass wir gar nichts mehr nehmen sollen, sondern dass wir bedächtiger vorgehen - und eben auch wieder etwas zurückgeben (“Erhalte die, die dich erhalten”).
Wer die Regeln der “Ehrenvollen Ernte” aufmerksam studiert und über deren Umsetzung in der heutigen Zeit nachdenkt, wird wahrscheinlich bald spüren, wie fremd diese Sätze für viele Menschen in unserer kapitalistischen Gesellschaft sein dürften. Der “fortschrittliche, moderne Mensch” schaut in der Regel denn auch eher verachtend auf indigene Völker herab, nennt sie primitiv oder gar faul. So waren die ersten Siedler in Nordamerika schockiert, dass die “Wilden” die sie antrafen, ihre Reisernte beendeten, noch lange bevor alle Körner abgelesen waren. Auf die Europäer wirkten die Indigenen daher faul. Sie konnten mit ihrem kolonialistischen Denken nicht erkennen, dass dies ein ökologisches Verfahren war, mit welchem dem Land etwas zurückgeschenkt wurde, was schlussendlich seine Fruchtbarkeit gefördert hat. Der Spruch “weniger ist mehr” klingt allzu plump und abgedroschen, aber schlussendlich läuft es genau darauf hinaus. Eine regenerative Wirtschaft wird nur gelingen, wenn wir erkennen, dass wir nicht alles haben müssen, nicht alles brauchen. Und wenn wir mit der Erde wieder in eine Austauschbeziehung treten, um in Gegenseitigkeit mit all ihren Bewohnern und Elementen zu leben.
Sehr altes, indigenes Wissen erlebt übrigens auch in vielen Organisationen einen Aufschwung, meist ohne dass dies den Beteiligten bewusst wäre. Wenn es darum geht, eine Veränderung in einer Organisation zu begleiten, dann zieht man heute eigentlich nicht mehr mathematische oder technologische Methoden heran, sondern man bezieht sich auf Methoden und Konzepte, die tief verwurzelt sind in uralten Kulturtechniken: Kreismethoden (z.B. Rederunden), Storytelling, das bewusste Halten von ergebnisoffenen Räumen, das Nutzbarmachen von Zufällen oder das Arbeiten mit Emergenz. Die uralte Form des Kreises wird nicht nur räumlich inszeniert, sondern findet sich auch immer häufiger in der Gestaltung von Organigrammen wieder. Das Buch “Reinventing Organizations” hat in der Organisationsentwicklung vor knapp 10 Jahren eine kleine Revolution losgetreten und mir scheint, dass das, was dort als “neues Wissen” angeboten wird, in Wahrheit eigentlich uraltes Wissen ist, welches erst gerade wieder neu entdeckt wird.
Erste Schritte zu mehr Naturverbundenheit
In unserer Kultur der Technologie, der Wissenschaft, der Moderne haben wir den Zugang zu diesem alten Wissen meist verloren. Doch wenn wir ihm begegnen, dann können wir uns immer noch an dessen Kraft erinnern. Wir können die Verbundenheit spüren und die schöpferische Kraft, die in diesen alten Prinzipien und Techniken liegt. Und genauso verhält es sich bei dieser alten Religion, die ich wieder verkünden will: Wir benötigen keine Mythen, um sie zu beschwören, denn wir alle kennen sie und können sie jeden Tag erfahren. Wir erkennen sie in der Schönheit eines Sonnenuntergangs, in der Stille an einem See, in der Kraft an einem Wasserfall, in der Lebensfreude eines Welpen, im Rauschen des Meeres, in der Erfüllung auf einer Bergspitze, im Rauschen im Blätterwald, im Lichte eines Feuers oder in der Süsse einer Frucht. Kein Gott hat diese Welt für uns gemacht und schenkt uns diese Erfahrungen, sondern wir selber sind Teil von diesem System, das alles zusammen verbindet. Das Ökosystem, das alles zusammenhält. Das alles ist. Wir nennen es Natur, ich nenne es Leben, der Prozess des Werdens.
Wie diese spirituelle Wende nun gelingen soll, weiss ich auch nicht so recht. Überhaupt möchte ich hier betonen, dass ich mir bewusst bin, dass ich all das, was ich hier beschreibe, nicht weiss - sondern dass ich das glaube. Ich kann nicht kritisieren, dass andere Glauben mit Wissen verwechseln, nur um es dann selber gleich zu tun. Und mir ist auch klar, dass niemand seine Naturverbundenheit, sein Erleben und Fühlen als Teil der Natur am Schreibtisch oder im Wohnzimmer weiterentwickeln kann. Wie jede Religion braucht wohl auch der “Teil-der-Natur-Glaube” seine Rituale und Erfahrungswelten, um die spirituelle Verbindung zu erkennen und zu vertiefen.
„Wir brauchen direkte Erfahrung mit der Natur, damit sie uns berührt.“
Bastian Barucker
Mögliche Anleitungen finden wir in überlieferten indigenen Regeln wie z.B. der “Ehrenvollen Ernte” oder in den wiederaufkommenden Kreispraktiken (z.B. hier oder hier). Wir müssen aber gar nicht so weit gehen, sondern können bereits mit relativ einfachen Schritten wieder mehr Nähe zur Natur erleben. Folgende Rituale könnte ich mir vorstellen, die uns Schritt-für-Schritt wieder näher zur Natur führen könnten:
regelmässig alleine Natur- und Waldspaziergänge unternehmen
einen Garten pflegen und jeden Tag beobachten, was hier alles wächst und lebt
im Frühling Wildkräuter sammeln und kochen
im Herbst Pilze sammeln und kochen
im Sommer in einem See oder in einem Fluss baden
bewusst den Wechsel der Jahreszeiten wahrnehmen, beispielsweise immer wieder den gleichen Ort aufsuchen und die Veränderungen beobachten (einen Bach, eine Lichtung, einen Baum, einen Waldrand etc.)
zu einen Redekreis im Wald einladen (z.B. um ein Feuer sitzend über Themen sprechen, die einen aktuell beschäftigen)
auf Naturspaziergängen einen schönen Stein, eine Kastanie oder eine Eichel einstecken - und sich freuen, wenn diese plötzlich in einer ganz anderen Situation wieder im Jacken- oder Hosensack gefunden wird
Natürlich ist diese Liste unvollständig und wirkt vielleicht auch gar kurz oder gar simpel, um damit eine spirituelle Umkehr anzustossen. Diese Schritte könnten aber ein Anfang sein, um sich wieder mehr mit der Natur zu verbinden. Und ich finde, sie lassen sich relativ leicht realisieren. Dadurch entsteht natürlich noch nicht automatisch eine Regenerative Gesellschaft, aber ich bin der Meinung, wir können eigentlich nur bei uns selbst anfangen. Und ich bin überzeugt, wenn wir beginnen, uns wieder mehr mit der Natur zu verbinden, mehr mit der Natur zu fühlen, dann wird sich dies auch auf die Entscheidungen auswirken, die wir treffen. Und auf die Lösungen, die wir finden. Ich glaube, meine Überzeugung ist hier rübergekommen: Ich sehe für unsere Zukunft mehr Potential in alten indigenen Prinzipien, als in modernen technologischen Lösungen und daher finde ich: Wir brauchen nicht mehr Technologie, sondern mehr Animismus
Nun, wie geht es dir damit? Was lösen die indigenen Prinzipien wie z.B. die “Ehrenvolle Ernte” bei dir aus? Und an was glaubst du eigentlich, wo findest du spirituellen Halt?
Was für eine wunderschöne Nachricht, lieber Daniel! Vielen Dank für dieses Geschenk an inspirierenden und anregenden Denkanstössen! Ich glaube, dass wir uns sowohl von der Natur als von uns Selbst als "Göttliche Schöpfung" entkoppelt haben, indem wir uns selbst als reine Funktion unseres "Habens/Tuns" verstehen, anstatt unser Sein zu erkunden und zu würdigen. Ich habe mit mehreren Religionen in jungen Jahren "experimentiert" (auch mit der nüchternen Wissenschaft :) und bin am Ende wieder Religionslos bzw. so etwas wie "Flexitarierin" geworden. Ich finde Halt im Glaube, dass in uns allen (Menschen, Lebewesen & Naturelemente) die gleiche, bewunderswerte, "magische" Lebenskraft innewohnt. So ist erzeugt zB. meine Katze (bei einer achtsamen Betrachtung) gerade so viel Ehrfurcht/Bewunderung wie die Augen meines Sohnes oder die Morgenröte auf meinen Arbeitsweg. Eine ausschliessliche Projektion des Göttlichen nach Aussen kann (meiner Meinung nach) nicht die Antwort sein, denn dann sehen wir uns wieder gezwungen, das Göttliche zu "Suchen", um einen bestimmten Zielzustand zu erreichen. Durch das Anerkennen und Würdigen des Göttlichen in uns und im allem Leben, können wir auch erst ein erfülltes, harmonisches Leben erfahren. Die grosse Schwierigkeit dabei: Trotz Bewusstsein und Bemühung gelingen mir nur Augenblicke der Verbindung. Diese geschieht alles andere als automatisch und bedeutet auch Verzicht. Mit den unzähligen Ablenkungen des modernen Lebens, die gesellschaftlichen Erwartungen, die eigenen Muster, etc. umzugehen ist alles andere als einfach. Trotzdem ein Jahresvorsatz wert! :) Danke fürs Erinnern! Hab einen wunderschönen Rutsch ins neue Jahr! Bis bald,
Eliana
Danke lieber Daniel, für deine wertvollen Gedanken. Wertvoll, weil sie viel bei mir auslösen. Zum Beispiel: die Meisten von uns sind nicht indigen, weil wir in eine anderen Zeit geboren sind, unsere Vorfahren uns nicht dieses innere Wissen weitergegeben haben, etc. Also müssen wir uns selber wieder diesem Animismus nähern, als bewusster Schritt der Annäherung. Ich fühle mich manchmal auch abgetrennt von der Natur, je nachdem ich selber auch nicht gut verbunden bin mit mir selber. Ich gehe jetzt mit unseren jungen Hund laufen und nehme mir vor, im Wald diesen ganz bewusst wahrzunehmen, aufzunehmen, mich ihm anzunähern. keep you posted. lieber gruss marc