Sollten wir wieder mehr leben wie zu Grossmutters Zeiten?
Von einer sehr anstrengenden Ferienreise wurde ich angeregt zu weiteren Gedanken zum Thema Nachhaltigkeit - und über das einfache Leben meiner Grosseltern.
Ich habe neulich in einem Gespräch die These aufgestellt, dass man oft erst Ferien braucht, weil man bald Ferien hat – da die Vorferienzeit so streng ist. Nun, die Reise mit meiner Familie in die Ferien nach Ischia scheint diese These zu stützen: Nach dieser Anreise sind wir definitiv ferienreif!
Weshalb tun wir uns das eigentlich an? Ist das jetzt dieser „Verzicht“ von dem in Nachhaltigkeits-Diskussionen immer wieder die Rede ist? Aber alles der Reihe nach, starten wir mit einer Schilderung unserer Reise von Luzern nach Ischia in einer leicht angepassten Version aus unserem Familien-Chat:
Begonnen hat die Sache ja eigentlich bereits mit der Sperrung des Gotthard-Basistunnels, denn entgegen der Absicht meines nochmaligen Schalterbesuchs, hatten wir keine Sitzplatzreservation auf der Bergstrecke und die zusätzlichen Tickets für den Regio nach Mailand waren auf den falschen Tag ausgestellt. With a little help from netten SBB-Bahnpersonal hat dann aber alles geklappt und Sitzplätze haben wir auch gefunden. Der Zug von Lugano nach Milano wurde aber aus uns unerklärlichen Gründen verkürzt geführt und so sind wir hier in der 1. Klasse auf dem Boden gesessen. Aber dort hat es ja immerhin Teppich. In Mailand hat dann alles soweit prima geklappt, leider durften wir dann aber feststellen, dass unser Abteil im Nachtzug genau in der Mitte eines Wagens liegt, der von einer grossen Gruppe Teenagern aus Deutschland belegt war. Und schlafen wollten die natürlich nicht so früh wie wir. Nun denn, in Salerno sind wir trotzdem angekommen, aber leider mit einer Stunde Verspätung. Also sind wir um 07:15 wie die Wilden sofort an den Hafen gehechtet und dort angekommen, schwang unser Glück, es noch rechtzeitig geschafft zu haben, alsbald um, als wir am Schalter erfahren haben, dass unser 07:50-Schiff gar nicht fährt. Ok, das heisst dann, einen Zug nach Neapel nehmen und unser Glück dort versuchen. Just in dem Moment hat meine Frau realisiert, dass bei ihrem Hechtsprung aus dem Taxi ihr Handy im Taxi geblieben ist. Hui! Mit dem Bus gings also zurück an den Bahnhof Salerno und dort haben wir gehofft, dass unser Taxifahrer plötzlich wieder auftaucht – hoffen darf man ja. Irgendwann haben wir die Hoffnung aufgegeben und als ich Tickets für den Zug nach Neapel am Kaufen war, hat sie mit grossem Glück von der Schalterhalle aus den Taxifahrer doch noch erspäht und mit einem neuerlichen Hechtsprung – das Taxi wollte gerade wieder losfahren – ihr Handy zurückgeholt. Nun sind wir also wieder unterwegs, meine Frau hat ihr Handy wieder und wir können den Buben auch endlich den Pyjama ausziehen! In Neapel den richtigen Hafen zu finden, war dann noch einmal eine Herausforderung, schliesslich haben wir es aber auf die 10:45-Fähre geschafft – die Tickets habe ich um exakt 10:40 am Schalter gekauft. Damit wir uns jetzt aber nicht plötzlich noch zu früh ausruhen, ging beim Aussteigen von der Fähre noch unser Koffer kaputt: Ein Rädchen wollte eigene Wege gehen. Die Schultern haben es gedankt – die waren schon vorher nicht mehr ganz so locker drauf, weil wir bei unserer Gepäckstrategie nicht ganz so viele Verschiebungen einkalkuliert hatten. Ein leckeres italienisches Mittagessen am Hafen von Ischia hat uns dann Kraft gegeben für die letzte Busfahrt – und wir haben sogar noch die Angebote von zwei aufdringlichen Taxifahrern abgewehrt. Sehr müde und erschöpft sind wir in unserem Appartement angekommen, wo wir sehr herzlich empfangen wurden. Jetzt müssen das ja fantastisch schöne Ferien werden – nur schon der kognitiven Dissonanzreduktion wegen! Aber ja, mitem Flugi uf Kreta wär äuä ringer gange.
Nun sitze ich am Strassenrand in Forio und beobachte aufmerksam den Verkehr. Wir warten auf den Bus Nummer 2, der uns zurück nach Citara fahren wird. Es wimmelt nur so von Autos und Scootern, ab und zu fährt auch ein Bus vorbei, dazu viele Kleinlaster und Taxis. Mir geht der Gedanke durch den Kopf, wie wenig es diese Leute wahrscheinlich interessiert, dass wir ohne Auto unterwegs sind. Und wie wenig das wahrscheinlich auch ausmacht in der Ökobilanz dieser Insel, die zwar verhältnissmässig viele Busverbindungen hat, sich vom Verkehr im restlichen Italien aber nicht gross unterscheidet. Ein ständiges Hin und Her, alle müssen dauernd irgendwo hinfahren. Sie drängeln. Hupen. Und hupen nochmal.
„Ihr Helden der Klimarettung“ hat meine Schwägerin uns geschrieben, als ich unseren Reisebericht im Familien-Chat geteilt habe. Uns geht es aber gar nicht darum, das Klima zu retten. Wir bilden uns auch nicht ein, dass wir das alleine überhaupt könnten. Für uns ist es einfach wichtig, bewusste Entscheidungen zu treffen und in die Ferien fliegen ist für uns aktuell nicht denkbar. Wir fahren auch viel lieber Zug, mit zwei kleinen Kindern sowieso. Nach dieser unglaublich anstrengenden Anreise nach Ischia fragen wir uns nun aber schon, weshalb wir uns das überhaupt antun. Was macht es für einen Unterschied, wenn wir den Zug nehmen, statt zu fliegen? Was macht es für einen Unterschied, wenn wir den Bus nehmen, statt ein Auto zu mieten?
Diese Frage ist auch für uns nicht einfach zu beantworten, ja, wahrscheinlich lässt sie sich gar nicht beantworten. Wir können die Unterschiede schlichtweg nicht vergleichen, auch wenn sich dazu sicherlich irgendein Klima-Impact-Rechner im Netz finden liesse. Für uns liegt der Unterschied vor allem darin, dass wir selber über unsere Mobilität entscheiden und die Konsequenzen von unseren Entscheidungen selber tragen wollen. Klar fallen gewisse Destinationen damit weg, im Umkehrschluss fällt aber eben bei vielen Destinationen auch die Option Zug weg. Und wenn Fliegen die einzige Option ist, dann ist die Auswahl ja nicht wirklich frei. Orte mit dem Zug zu erreichen, wo man auch hinfliegen könnte, bringt diese Freiheit aber mit sich. Und ja, wir finden durchaus, dass man innerhalb Europa nicht fliegen sollte. Und dazu kommt, dass wir ebenfalls finden, dass man eigentlich in Europa alles hat, was man für schöne Ferien braucht. Meine Frau und ich haben in den letzten fünfzehn Jahren beide einige Flüge absolviert und Ende 2018, nach einem Flug nach Sri Lanka im Januar und einem Flug nach Finnland im Dezember, haben wir daher entschieden, dass wir eine Weile nicht mehr fliegen möchten.
Das Schöne am Reisen mit dem Zug oder Schiff ist ja, dass die Anreise bereits Teil der Ferien ist und die Seele in aller Ruhe mitkommen kann. Denn aus der Hektik des Alltags in ein paar Flugstunden in ein völlig anderes Klima und eine völlig andere Kultur zu reisen, kann sehr herausfordernd sein. Meine Frau sagt zudem, dass die Reise mit Zug und Fähre auch ein wenig ein Abenteuer sei, es passiert Unvorhergesehenes und man sammelt neue Erfahrungen. Gerade wenn man mit kleinen Kindern unterwegs ist, kommt man auch mit Land und Leuten bereits auf der Anreise in Kontakt. Und so wie meine Frau in ihren Familienferien als Kind gelernt hat, dass man nicht einfach mit dem Auto oder mit dem Flugzeug in die Ferien fahren muss, lernen vielleicht ja auch unsere Kinder, selber verschiedene Optionen zu prüfen und nicht einfach zu machen, was „man halt macht“ (=in die Ferien fliegen).
Wenn ich mir das alles so nochmal überlege, dann geht es uns vielleicht auch gar nicht einmal primär um Nachhaltigkeit, wenn wir mit dem Zug in die Ferien fahren. Oder ist das jetzt auch bereits Teil der Dissonanzreduktion, dass ich mir „die tollen Reiseerfahrungen“ nicht nur schönrede, weil es diesmal sehr streng war, sondern auch, weil unsere Reise bezüglich Klima und Nachhaltigkeit ja kaum einen Unterschied machen wird?
In einem früheren Text habe ich geschrieben, dass das nachhaltigste Produkt jenes ist, welches gar nicht produziert wird. Das gilt natürlich auf für die Mobilität: Die nachhaltigste Reise ist diejenige, die gar nicht stattfindet. Machen wir uns also nichts vor mit diesem Flugverzicht – zu Hause bleiben wäre das einzig Nachhaltige.

Vor ein paar Wochen war in der NZZ am Sonntag ein Artikel über Ernährungspolitik. In der Diskussion über weniger Fleischkonsum wurde die Meinung wiedergegeben, dass „der Staat nicht auf den Essteller regieren“ soll. Das machte mich ein wenig nachdenklich: Wer ist denn eigentlich „der Staat“? Sind das nicht wir alle? Auf jeden Fall denke ich, dass wir das Thema Nachhaltige Ernährungspolitik nicht ausgehend von „der Staat soll mir nicht auf den Teller regieren“ angehen können, sondern wir uns gemeinsam fragen sollten: Wie können wir unsere Ernährungspolitik gestalten, damit langfristig genügend Lebensmittel für alle zur Verfügung stehen? Was tun wir, wenn es Ernteausfälle gibt? Was tun wir, wenn der Boden plötzlich weniger fruchtbar wird? Wie sollen wir den Boden überhaupt sinnvoll nutzen? Inwiefern wollen/können wir hohe Transportkosten für Importe aus dem Ausland tragen? Welche Lebensmittel können wir uns wirklich leisten, sowohl im Portemonnaie als auch in der Gesundheit der Natur und des ganzen Ökosystems?
Bei solchen Themen muss ich oft an meine Grosseltern denken, die in bescheidenen Verhältnissen einen kleinen Bauernbetrieb im Simmental geführt haben. Das Thema „Ernährungspolitik“ hat sich bei ihnen etwa wie folgt abgespielt: Fleisch gab es, wenn ein Tier geschlachtet wurde (entweder auf dem eigenen Hof oder auf einem anderen Hof im Dorf), Gemüse und Früchte waren in der Regel saisonal und regional, da das meiste aus dem eigenen Garten stammte, zum Nachtessen gab es häufig Griessbrei oder auch einfach nur Brot und Käse. Resten, wie z.B. altes Brot, wurden stets verwertet und auch „nose to tail“ musste man nicht propagieren, da sie es sich sowieso nicht leisten konnten, irgendeinen Teil eines geschlachteten Tieres nicht zu verwenden. Alles war knapp, daher wurde gespart und sparsam mit Lebensmitteln umgegangen. Und ja, im Winter gab es von allem noch weniger.
Wenn wir heute also hinsichtlich Ernährungspolitik diskutieren, ob wir weniger Fleisch oder weniger Bio-Produkte aus dem Ausland konsumieren sollten, dann sind dies meines Erachtens Anzeichen davon, dass wir zu viel haben, dass es uns eigentlich viel zu gut geht. Denn mit dieser Definition von „Nachhaltiger Ernährungspolitik“ wären meine Grosseltern super gewesen – aber nicht, weil sie besonders klimabewusste, grüne oder nachhaltige Menschen gewesen wären (das gab es damals alles noch nicht), sondern weil es gar nicht anders ging. Insofern könnte das Thema „Nachhaltige Ernährungspolitik“ eigentlich auch in die Kategorie „Luxusprobleme“ fallen. Und das meine ich jetzt nicht in dem Sinne, dass wir uns leisten können, diese Probleme nicht zu lösen, sondern vielmehr dahingehend, dass sie auf ein Übermass, auf eine Verschwendung oder eben auf ein Leben in Luxus hindeuten.
Eine dazu passende Anekdote kann ich auch noch aus der Familie von meiner Frau erzählen: Wenn meine Schwiegermutter als Kind an die Fasnacht ging, waren die Orangen, die von den Umzugswagen herab verteilt wurden, etwas vom Kostbarsten, das sie als Kind je bekam. Heutige Kinder sind aber vielleicht enttäuscht, dass es keine Schokolade oder Schläckzüg gibt. Orangen sind sie gewohnt, die gibt es ja schliesslich jeden Tag in der Migros.
„Ernährungspolitik“ in der Generation meiner Grosseltern sah auf die Familie bezogen also in etwa so aus: Können wir uns das leisten? Gibt es genügend Ernte? Liegt noch ein Stück Fleisch drin oder nicht? Müssten wir für eine wirklich nachhaltige Ernährungspolitik daher nicht vielleicht wieder ein paar Schritte zurückrudern und ein wenig von unserem Luxusross heruntersteigen, das wir aktuell reiten?
Auch bei der Mobilität beschäftigen mich zuweilen solche Gedanken. Dass wir uns jedes Jahr eine Reise ans Mittelmeer leisten können, ist ein Luxus, den meine Grosseltern nicht kannten. Erst als sie vom Bauernbetrieb in Pension gingen, haben sie das erste Mal in ihrem Leben Ferien gemacht. Mit einem Reisecar sind sie 2-3 Mal ein paar Tage verreist, das absolute Highlight für sie war eine Reise nach Ungarn. Wenn wir uns nun also darüber Gedanken machen, wie wir am nachhaltigsten ans Mittelmeer kommen, dann ist das ein Luxusproblem. Für den Planeten wäre es gesünder, wenn wir wieder mit weniger Luxus leben würden. Wäre es vielleicht sogar auch für uns selbst gesünder?
Dass es mir nicht darum geht, wieder in Steinzeithöhlen zurückzukehren, sollte ja eigentlich klar sein. Aber vielleicht sollten wir wieder mehr leben wie unsere Grosseltern? Mit weniger Mobilität, weniger ganzjähriger Verfügbarkeit von allem Möglichen, weniger Verschwendung von Lebensmitteln, weniger Technologieeinsatz und weniger einseitiger Massenproduktion. Wobei es auch hierzu negative Beispiele gibt, die bereits viel älter sind als die Generation unserer Grosseltern. Ein sehr dunkles Kapitel liegt etwa in Nordamerika: Wie dort mit dem Leben umgegangen wurde, das die ersten Siedler angetroffen haben. Nicht nur die indigenen Völker wurden zerstört, sondern auch Millionen von Tieren getötet. Kürzlich habe ich gelesen, wie ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Great Plains in ungefähr 12 Jahren etwa 8 Millionen Bisons getötet wurden. Dieses Tier bildete für viele Plains-Indianer jahrhundertelang die Lebensgrundlage, sie verwerteten alles, was das Tier zu bieten hatte: Fleisch wurde roh verzehrt, über dem Feuer gebraten oder als Proviant getrocknet, die Häute lieferten Kleidung, aus den Mägen entstanden Beutel und aus den Knochen Werkzeuge oder Schmuck. Und was machen die weissen Jäger? Sie schiessen die Bisons aus dem fahrenden Zug, nehmen die wertvolle Bisonhaut mit und lassen die Kadaver achtlos vor Ort verrotten. Gemäss Erzählungen blieb das ehemals vor lauter Bisons schwarze und braune Land weiss zurück - weiss von all den in der Sonne vergilbten Bisonknochen.
Die Indigenen kannten somit „nose to tail“ oder besser gesagt, sie kannten es nicht: für sie war es eine Selbstverständlichkeit. Die weissen Siedler sahen aber nur den Profit und bedienten die internationalen Märkte mit Bisonhäuten – bis die Bisons praktisch ausgerottet waren. Das damals grösste Landsäugetier Nordamerikas besiegt – ein Hoch auf die Menschheit!
Solche Geschichten machen mich sehr traurig und teilweise füllen sie mich auch ein wenig mit Scham, ebenfalls zu dieser „gloriosen“ Spezies des Homo Sapiens zu gehören. Keine andere Spezies hat jemals so viel Zerstörung angerichtet. Um genau zu sein, ist es aber eigentlich nur der sogenannt moderne Mensch, der so viel Zerstörung angerichtet hat. Denn indigene Völker in anderen Weltregionen kennen beim Zusammentreffen mit Europäern ähnliche Schicksale wie die Native Americans und in den Siedlungsgeschichten von Australien und Neuseeland gibt es ähnliche Fälle von grossen Tieren, die praktisch ausgerottet wurden.
Die Kritik verdient also der moderne Mensch. Und meine Grosseltern waren in diesem Sinne wahrscheinlich nicht so modern. Sind die Nachhaltigkeitsprobleme unserer Ernährung oder unserer Mobilität ein Zeichen des Luxus, des Überflusses der Moderne? Was könnte entstehen, wenn wir uns wieder vermehrt dem Einfachen, dem Bescheidenen, dem Lokalen zuwenden würden?
Geschichten lesen ist immer spannend - danke dafür :-)
Ulrike Herrmann plädiert für ein "kontrolliertes Schrumpfen" und kommt mit ihren Berechnungen auf einen Energiebedarf wie 1978 (als nicht wie in der Steinzeit).... und da haben die Menschen auch nicht schlecht gelebt - meint sie. Das kommt mir grad in den Sinn, wenn ich deine Gedanken lese...
Katja Gentinetta sieht das allerdings anders. Vielleicht was für dich? https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/wer-rettet-den-kapitalismus-vor-sich-selbst?urn=urn:srf:video:de936f2e-774b-4a20-b3ad-f63bf154464e
...sehr spannende Gedanken und aus meiner Sicht gesehen folgerichtige Schlüsse - wie kriegen wir das Rad herum, wie gelingt es uns, die Geschehnisse in die andere Richtung zu lenken?