Wir sind keine Götter
Die jüngsten Entwicklungen bei Open AI geben einen Hinweis auf die grosse spirituelle Krise unserer Zeit.

In den letzten Tagen war mächtig etwas los bei Open AI, der Organisation hinter einer der aktuell bekanntesten Anwendungen künstlicher Intelligenz (ChatGPT). Inzwischen ist der entlassene CEO wieder eingestellt und der Verwaltungsrat der Firma wird neu ausgerichtet. In diesem Zusammenhang war wieder mal zu lesen, wie gross die Gefahren der künstlichen Intelligenz (KI) sind und dass es nicht mehr lange dauern könnte, bis eine KI entwickelt wird, die gemäss Open AI “in allem besser ist als der Mensch”. Ich bin mir bewusst, dass es tatsächlich viele Menschen gibt, die Angst haben vor den Gefahren einer möglichen artifiziellen Super-Intelligenz und ich denke, dass wir die Beobachtung dieser Entwicklungen aus gesellschaftlicher Sicht sicherlich auch nicht vernachlässigen sollten. Aber dass dereinst eine Maschine existieren könnte, die “in allem besser ist als der Mensch”, das finde ich geradezu absurd.
Aus meiner Sicht offenbart dieser Glaube, dass dereinst eine Maschine “intelligenter” sein werde als der Mensch, dass wir uns in einer massiven spirituellen Krise befinden. Mit dem Fortschritt in die Moderne, der zunehmenden Säkularisierung und den damit einhergehenden technischen Innovationen fühlt sich der Mensch immer mehr als Gott, als grosser Schöpfer, der meint, die Erde und die Natur seinem Willen unterwerfen zu können. Die Fantasien zur künstlichen Intelligenz sind aus meiner Sicht nur das neuste Kapitel in einer Entwicklung, welche durch eine masslose Übersteigerung des menschlichen Egos gekennzeichnet ist und in einer grenzenlosen Selbstüberschätzung dessen gipfelt, was der Mensch leisten kann. Während sich der Mensch in vorherigen Kapiteln zum Beispiel anmasste, Theorien zu entwickeln, wie mittels Geoengineering die Sonne verdunkelt und dadurch der Klimawandel kontrolliert werden könnte, hat das neuste Kapitel der künstlichen Intelligenz ganz besondere Eigenheiten. Denn einerseits ist auch dieses Kapitel durchzogen von der masslosen Selbstüberschätzung der menschlichen Fähigkeiten und dem Glauben, einer Gottheit gleich schöpferisch wirken zu können. Andererseits gesellt sich nun hier aber auch erstmals die Angst hinzu, dass die Menschen ihren Status als “Krone der Schöpfung” an eine noch intelligentere Kraft verlieren könnten. Dass dies überhaupt denkbar wird, ist jedoch nur möglich durch eine Einschränkung dessen, was wir als Intelligenz betrachten. Und genau darin liegt meiner Meinung nach der grosse Irrtum in diesen Ängsten vor einer möglichen künstlichen Super-Intelligenz: Wir sprechen immer nur von einer rationalen, technischen Intelligenz. Wenn uns das derart Angst macht, offenbaren wir dadurch, dass wir nicht verstanden haben, dass wir Menschen viel mehr sind als die Ratio, die Vernunft. Denn jeder Mensch, der sich nicht in erster Linie als rationales, vernünftiges Wesen sieht, sondern mindestens genauso als emotionales, fühlendes Wesen, dürfte nicht wirklich Angst haben, dass eine Maschine dereinst “in allem besser ist als der Mensch”. Ich schreibe diesen Satz bewusst jetzt bereits zum dritten Mal genau so, wie er in der NZZ am Sonntag gedruckt wurde, damit wir uns die Absurdität dieser Aussage bewusst vor Augen führen können. Nochmal: Eine Maschine soll “in allem” besser werden als der Mensch, in allem. Das ist, mit Verlaub, schlichtweg lächerlich. Eine Maschine soll also zum Beispiel besser lieben können als ein Mensch, soll ein besserer Vater sein als ein Mensch, soll besser Kinder zeugen und gebären können als ein Mensch, soll besser mitfühlen können als ein Mensch, soll eine bessere Intuition haben als ein Mensch. Wie kann man so etwas wirklich glauben?
Vielleicht gibt es jetzt Leser, die sich denken “Oh Mann, wie naiv ist denn dieser Daniel Sigrist - der wird schon noch auf die Welt kommen”. Gut möglich, dass meine Überzeugungen naiv wirken. Mir geht es aber auch gar nicht darum, diesen Diskurs mit dem besseren Argument zu gewinnen. Sondern für mich geht es hier um etwas viel Wichtigeres: Ich will hier bewusst entgegenhalten, dass es auch noch andere Glaubenssysteme gibt! Und damit deutlich machen, dass es sich aus meiner Sicht letztlich um eine Glaubensfrage handelt.
In meinem vorletzten Text “Weshalb ‘Nachhaltigkeit’ nicht reicht” habe ich darüber geschrieben, wie herausfordernd es werden dürfte, die Transformation in eine nicht nur nachhaltige, sondern vielmehr regenerative Wirtschaft zu schaffen. Im Kern handelt es sich auch hier um dieselbe Glaubensfrage: Glaubst du daran, dass der Mensch Teil der Natur ist, oder glaubst du, dass der Mensch über der Natur steht? Und auch wenn immer mehr Menschen sagen, dass der Mensch Teil der Natur sei, dann wird aus meiner Sicht lediglich deutlich, dass man dies eben auch sagen kann, ohne es wirklich zu glauben. Oder ohne es wirklich zu fühlen. Denn sonst würden wir nicht so handeln, wie wir immer noch handeln. Wir würden nicht ernsthaft das Gefühl haben, dass wir die Sonne kontrollieren können. Oder dass wir eine neue Intelligenzform erschaffen können, welche unsere eigene “in allem” übersteigen wird.
Welcher Grössenwahn unser Glaubenssystem aktuell prägt, wird auch in verschiedenen Beispielen rund um das Thema “Technologie und Klimawandel” deutlich. Kürzlich habe ich einen Artikel gelesen über die sogenannte Strategie der “Negativemissionen”. Kurz zusammengefasst handelt es sich hier um das Vorhaben, die für unsere Umwelt und das Klima schädlichen Emissionen dadurch aufzuheben, indem diese der Luft mittels Technologieeinsatz wieder entzogen werden. Der Irrsinn dieser Strategie wird deutlich, wenn man sich die Kosten anschaut: Um den jährlichen fossilen Abdruck einer einzigen Person aus der Luft zu entfernen, wird so viel Energie benötigt, wie fünf Familien in dem Zeitraum verbrauchen. Natürlich dürfte diese Technologie noch günstiger und effizienter werden, aber wird diese Rechnung wirklich jemals aufgehen? Zum Irrsinn zähle ich auch die Absicht, Treibhausgase per Pipeline aus der Schweiz nach Norwegen zu exportieren, um sie dort langfristig im Boden zu speichern. Auch das wird immense Kosten verschlingen. Oder ein weiteres Beispiel: Das Kreieren von Laborfleisch, also etwa künstlich vermehrte Muskelzellen von Hühnern, benötigt ein vielfaches der Energie der normalen Fleischproduktion. Was soll uns Laborfleisch also wirklich bringen? Wie können wir glauben, dass sich diese Kosten wirklich lohnen werden?
Ich bin fest überzeugt: Mit Technologie werden sich die Probleme unserer aus dem Gleichgewicht geratenen Ökosysteme niemals lösen lassen. Aktuell dienen diese “Innovationen” meiner Meinung nach primär der Aufrechterhaltung des Fortschrittglaubens. Die Investition in diese Technologien sind Investitionen in das Narrativ des gottgleichen Menschen, in das Narrativ der unermesslichen schöpferischen und kreativen Kraft der Menschen. “Macht euch die Erde untertan” - und wir haben es gemacht. Oder zumindest sind wir dieser Illusion verfallen. Denn ich bin mir sicher: Wir können gar nicht beherrschen, was nicht uns gehört. Wir können gar nicht unterwerfen, was wir selbst sind.
Was würde es bedeutet, nicht nur durch Technologieeinsatz vordergründig “nachhaltig zu sein”, sondern wirklich regenerativ zu leben? Wir müssten uns voll und ganz als Teil der Natur in dieses sensible Ökosystem einfügen, uns einordnen, unseren Beitrag leisten für die Gesundheit des ganzen Systems, etwas nehmen und immer auch etwas zurückgeben. Mit immer noch mehr Technologie werden wir die Wunden, die wir der Natur zufügen, niemals heilen können. Wir müssen aus meiner Sicht vielmehr auf eine andere Form von Technologie setzen, nämlich auf die regenerativen Kräfte der Natur. Wenn wir uns zurückziehen und aufhören, der Natur Wunden zuzufügen, kann sie sich erholen. Den Preis, den wir bezahlen müssen, wird daher nicht sein, teure Technologien zu entwickeln, damit wir die Sonne oder gar das ganze Klima kontrollieren können. Wir müssen keine Super-Intelligenz erschaffen, um der dann die Lösung der von uns gemachten Probleme zu überlassen. Unser Preis wird sein, dass wir uns ein wenig zurückziehen und dadurch nutzbar machen, was bereits da ist: Die Kraft der Natur, sich selbst zu regenerieren. Die Kraft von Abermillionen von Mikrolebewesen, von Pilzen, von Pflanzen, von Wasserläufen, von Strömen, von Wäldern. Von Ökosystemen. Und das Beste: Wir müssten dafür nicht einmal etwas bezahlen! Denn diese Kräfte wirken gratis und entziehen sich vollends der Logik des Geldsystems. Uns steht also eigentlich bereits eine unglaubliche Super-Intelligenz zur Verfügung - und das erst noch gratis. Es ist eine grosse Tragödie und der Kern eben jener spirituellen Krise, dass wir diese Kraft nicht erkennen und uns ihr nicht unterordnen können, sondern stattdessen das Gefühl haben, dass nur wir das Problem lösen können. Dafür steht sinnbildlich: Wir entwickeln lieber “künstliches Fleisch” im Labor, was sehr viel Geld kostet, statt einfach weniger Fleisch zu essen, was gar nichts kostet.
In der Tatsache, dass die regenerative Kraft der Natur uns eigentlich gratis zur Verfügung stehen würde, offenbart sich die zentrale Rolle des Geldes für unser vorherrschendes Glaubenssystem. Aus meiner Sicht ist klar, weshalb aktuell der Fokus im Umweltschutz so stark auf den CO2-Emissionen liegt: Diese lassen sich quantifizieren, messen - und es lässt sich damit Geld verdienen. All die Technologien für Negativemissionen oder Geoengineering binden Unmengen an Investorengeldern und versprechen potenziell horrende Gewinne. Genauso verhält es sich auch bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz, hier werden Unsummen an Mitteln gebunden. Dazu kommen die massiven Kosten, die der Betrieb der diversen Chatbots mit ihrem immensen Bedarf an Rechenleistung zur Folge haben. Manchmal rechne ich mir diese irrsinnigen Summen, die ich so in der Zeitung lese, zusammen und stelle mir vor, was damit alles sonst noch angestellt werden könnte. Wie viele Kinder könnten satt werden? Wie viele Menschen könnten für ihre Arbeit anständig bezahlt werden? Wie viele Tierarten könnten vor dem Aussterben gerettet werden? Wie viele Ökosysteme könnten regeneriert werden? Aber wir investieren das grosse Geld lieber in künstliche Intelligenz, die eines Tages “in allem besser ist als der Mensch”.
Daher bleibt hier zum Schluss ein pessimistischer Blick: Solange Geld ein derart zentrales Element unseres Glaubenssystems ist, dürfte es sehr schwierig werden, eine wirklich nachhaltige, regenerative Gesellschaft zu entwickeln. Denn noch einmal: Eigentlich wäre alles da - und sogar gratis. Die Natur könnte sich selbst erholen, wir müssten sie nur machen lassen. Statt absurd teure Technologien zu entwickeln, um CO2 aus der Luft zu entnehmen, könnten wir einfach alle Bäume stehen lassen. Und noch mehr Bäume pflanzen. Aber wer wären wir dann? Wir wären nicht mehr die Herrscher der Natur. Wir wären nicht mehr die Schöpfer. Wir müssten uns eingestehen, dass wir nicht so wichtig und vor allem nicht so genial sind, wie wir uns selbst gerne sehen. Wir wären einfach ein Teil der Natur. Um es mit Philipp Blom zu sagen: “Menschen sind nicht so wahnsinnig wichtig für den Planeten. Menschen sind für Menschen wichtig.”
Glaubst du auch, dass die massive Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung des Menschen das eigentliche Problem unserer Zeit ist? Und was braucht es, um uns wieder vermehrt in Demut zu üben?
Noch ein kleiner genereller Nachtrag: Ein Artikel auf SRF-online berichtet vom positiven Einfluss, den Biber auf Ökosysteme haben (https://www.srf.ch/wissen/natur-tiere/dank-biber-mehr-biodiversitaet-biber-statt-bagger-wenn-sie-bauen-steigt-die-artenvielfalt).
Und auch meine These wird gestützt, dass vieles eigentlich gratis vorhanden wäre:
«Der Biber macht genau das, was der Bund anstrebt. Er schafft dynamische, funktionale Ökosysteme, die auch längerfristig stabil sind gegen äussere Einflüsse wie den Klimawandel, Wassermangel und hohe Temperaturen. Der Biber leistet gratis einen grossen Beitrag.»
Stimmt, es ist eine Frage der Perspektive, geprägt durch Erziehung, Erfahrung, Selbstverständnis: Wer sich als der Natur zugehörig versteht, verzweckt diese nicht leichtfertig.