Weshalb "Nachhaltigkeit" nicht reicht
Gedanken zu einer Regenerativen Wirtschaft und zur Notwendigkeit des Verzichts

Neue Muster oder alte Wege? Das war der Titel des diesjährigen Forum ö, an dem ich letzten Donnerstag teilgenommen habe. Das Forum ö ist die Jahreskonferenz vom öbu, dem Verband für nachhaltiges Wirtschaften (öbu steht für “ökologisch bewusste Unternehmensführung”). Neue Wege oder alte Muster? Die Antwort scheint für mich klar: Es braucht unbedingt neue Wege! Und damit einhergehend auch neue Muster. Mutig in Richtung regenerative Wirtschaft, das war der Untertitel der Konferenz. Es stand also nicht Nachhaltigkeit im Zentrum, sondern Regeneration. Doch was ist genau der Unterschied? Für mich wird hier deutlich, was ich schon seit einiger Zeit spüre: Ich glaube, es reicht nicht, wenn wir alle „nachhaltig“ werden und nur noch sogenannt “nachhaltige” Produkte kaufen. Photovoltaik auf dem Dach: Check. Wärmepumpe hinter dem Haus: Check. Nicht mehr fliegen: Check. Kein Auto: Check. Konsumverzicht: Check. Und doch würde der Planet immer noch zugrunde gehen, wenn alle Menschen so leben würden wie ich. Nachhaltigkeit bedeutet praktisch nie “Das tut dem Planeten richtig gut”, sondern meist lediglich “Das gilt aktuell als am wenigsten schlimm für den Planeten”. Ich habe es in diesem Blog schon mehrmals zum Ausdruck gebracht: Wirklich nachhaltig wäre meiner Ansicht nach nur, nichts zu tun. Die nachhaltigste Reise ist diejenige, die nicht angetreten wird. Das nachhaltigste Produkt ist jenes, das nicht hergestellt wird.
Vor ein paar Jahren habe ich das Buch “The Responsible Company” über die Firma Patagonia gelesen und verinnerlicht, was dort auf Seite 6 geschrieben stand: “Everything we all do at work hurts the environment more than it gives back”. Wir nehmen mehr, als wir zurückgeben. “Nachhaltig” heisst, weniger zu nehmen. Und zurück geben wir eigentlich nichts. Regeneration geht hier ein paar Schritte weiter. Am Forum ö habe ich die folgende Grafik kennengelernt, die das schön auf den Punkt bringt:

Das Ziel einer Regenerativen Entwicklung wäre demnach, nicht nur weniger Schaden anzurichten (grün oder nachhaltig), sondern defekte Ökosysteme (restaurativ) wieder herzustellen oder ein Ökosystem insgesamt zu verbessern (regenerativ). Was es dafür braucht, steht ganz oben: Zusammenarbeit mit Ökosystemen statt Zerstörung. Oder in anderen Worten: Verbundenheit mit der Natur statt Trennung.
Mich hat natürlich sehr gefreut, dass am Forum ö bereits in der Auftakt-Keynote (in der die obige Grafik gezeigt wurde) der Satz “Wir Menschen sind Teil der Natur” gefallen ist. Im Laufe des Tages habe ich aber gemerkt, wie herausfordernd das Zielbild der Regenerativen Wirtschaft ist. In den diversen Breakout-Sessions haben die Leute meist immer noch von Nachhaltigkeit gesprochen, auch wenn das Thema eigentlich Kreislaufwirtschaft oder eben Regenerative Wirtschaft gewesen wäre. Die Einladung der Konferenz war, sich über das Schliessen der Kreisläufe, über das Spenden, das Zurückgeben, das Wiederherstellen der Ökosysteme Gedanken zu machen. Und in meiner Wahrnehmung hatten die meisten Personen Mühe damit. Ich kann das jedoch verstehen, mir ging es nämlich auch so. Ich finde es schon sehr herausfordernd, meinen negativen Impact weiter zu vermindern, so dass ich weniger Schaden hinterlasse. Wie ungleich herausfordernder ist es dann erst, mit meinem Handeln gleichzeitig auch noch defekte Ökosysteme wiederherzustellen oder insgesamt sogar verbessern zu müssen. Wie soll das gehen? Was soll ich da tun? Es stellt sich hier bei mir eine gewisse Ohnmacht ein.
Im Nachmittagsprogramm am Forum ö habe ich an einer spannenden Diskussion zur Frage “Welche Kultur braucht es für eine regenerative Wirtschaft?” teilgenommen. In der Runde wurde bald über Werte gesprochen, die für diese Kultur wichtig sein würden. Mit meinem Verständnis von Kultur nach Edgar Schein ist jedoch klar: die Werte sind niemals die entscheidende Ebene für Kulturentwicklung, ausschlaggebend sind immer die kollektiv geteilten Grundannahmen (“basic assumptions”). Diese Grundannahmen sind als Glaubenssätze jedoch so tief im Denken verankert, dass sie nicht bewusst wahrgenommen werden. Folglich werden sie in der Regel auch nicht hinterfragt oder diskutiert. Und das macht Kulturentwicklung so herausfordernd.
Aus meiner Sicht ist ein prägender Glaubenssatz in unserer westlichen Kultur, dass die Natur für uns Menschen geschaffen wurde, dass wir folglich frei über die Natur verfügen, sie dominieren können. In der Gruppendiskussion haben wir versucht, gemeinsam Strategien zu entwickeln, wie stattdessen die Grundannahme “der Mensch ist Teil der Natur” verankert werden könnte. Wir haben darüber gesprochen, wo wir in unserem Alltag Beispiele von Trennung (“Disconnect”) erleben und wie wir hier wieder mehr in Verbindung kommen könnten. Eine Teilnehmerin aus den USA hat uns erzählt, wie sie in Texas gelebt hat und dort die meiste Zeit in klimatisierten Räumen verbrachte: im klimatisierten Büro, im klimatisierten Supermarkt, im klimatisierten Auto. Sie hat die Aussentemperatur, die frische Luft praktisch nie gespürt. Sie war ständig in einem künstlich erzeugten Raumklima. Heute lebt sie in St. Gallen und geht jeden Morgen zu Fuss durch die Stadt zur Arbeit. Das Wetter und die Jahreszeiten unmittelbar zu erleben, sei für sie im Vergleich zu ihrer Erfahrung in Texas von unvorstellbarem Wert. Die schockierendste Einsicht, als sie neu in die Schweiz gezogen war, war aber eine andere: Dass in den USA das ganze Jahr hindurch sämtliche Früchte und Gemüse erhältlich waren. Erst in der Schweiz hat sie realisiert, dass gar nicht immer alles Saison hat - oder dass es so etwas wie saisonale Früchte und Gemüse überhaupt gibt.
Mich haben diese Erzählungen sehr berührt. Wie entrückt unser Leben doch zuweilen ist. Und wie viel entrückter es in anderen Gegenden der Welt noch sein kann. Die Diskussion in der Gruppe wurde auf Englisch geführt und besonders geblieben ist mir die Frage, wie es uns gelingen kann, vermehrt “behind the wall” zu schauen. Wie erkenne ich, was mich trennt, wenn ich nicht kenne, von was ich überhaupt getrennt bin? Wie kann ich diese Wand erkennen und beginnen, dahinter zu schauen? Wir waren uns einig, dass wir unsere unbewussten Grundannahmen am besten über Erfahrungen erkennen und herausfordern können. Ob wir dabei gleich sinngemäss von Texas nach St. Gallen umziehen müssen, fragt sich natürlich. Das Gefühl der Verbundenheit mit der Natur lässt sich aber wahrscheinlich tatsächlich nur über Naturerfahrungen stärken. Am Schreibtisch werden wir unsere Kultur wohl kaum verändern.
Und damit kommen wir zu einer der grossen Herausforderungen von solchen Konferenzen und Tagungen: Was ändert sich nun wirklich, wenn 300 Menschen einen Tag lang in Zürich über Nachhaltigkeit sprechen? Was tun sie danach anders? Hat das überhaupt einen Einfluss? Und beschäftigen sich hier überhaupt die Richtigen mit dem Thema? Was ändert sich, wenn die “Nachhaltigkeits-Bubble” zusammenfindet und kaum jemand dabei ist, der nicht sowieso schon in eine ähnliche Richtung denkt? Wie erreicht man die Leute, die gar nicht erst in die Nähe von solchen Konferenz kommen?
Gerade mit Bezug zum Thema “Regenerative Wirtschaft” und dem dafür erforderlichen Verständnis, dass der Mensch Teil der Natur ist, wird zudem deutlich: Ähnlich wie das am Schreibtisch nicht gelingen kann, können wir unsere Naturverbundenheit, unser Empfinden als Teil der Natur wohl auch nicht in einer klassischen Eventlocation stärken. Würde so eine Konferenz daher vielleicht besser im Wald stattfinden? Oder auf einem Permakultur-Hof?
Leider blieben die konkreten Beispiele an der Konferenz aus, wie eine Regenerative Wirtschaft in der Praxis genau aussehen könnte. Was tut eine Firma, um Ökosysteme zu regenerieren? Ich bin der Meinung, dass ein grosser Beitrag zur Regenerativen Wirtschaft darin bestehen sollte, dass Firmen sich aus gewissen Bereichen zurückziehen und der Natur wieder mehr Raum lassen, damit sie sich selbst regenerieren kann. “Wann immer möglich die Natur in Ruhe lassen” war bereits damals ein zentraler Punkt, als ich vor ein paar Jahren das “Manifest für enkeltaugliche Unternehmen” mitgeschrieben habe. Doch leider ist der Verzicht, das Sich-Zurückziehen, das Die-Natur-in-Ruhe-Lassen als Strategie für eine Regenerative Wirtschaft nicht sehr präsent an diesem Tag. Wird an dieser Stelle nun halt deutlich, dass es sich beim Verband öbu trotz allem immer noch um einen Wirtschaftsverband handelt? Denn im aktuellen Wirtschaftssystem steckt eben immer noch die Grundannahme, dass Wirtschaft ständig wachsen muss. Wann gelingt es uns endlich, diesen Glaubenssatz zu hinterfragen?
Vor ein paar Jahren habe ich an der Jahreskonferenz von SDSN Schweiz (Sustainable Development Solutions Network) Henrik Nordborg kennen gelernt, Professor und Studiengangleiter an der Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil. Er hat mir anhand einer einfachen Grafik (siehe unten) erklärt, was seiner Meinung nach das Hauptproblem an unserem Umwelt- und Klimathema ist: Seit 1960 korreliert das weltweite Wirtschaftswachstum (GDP) praktisch zu eins mit dem weltweiten CO2-Ausstoss - wie soll nun diese Korrelation plötzlich umgedreht werden, damit das Ziel “Netto-null” bis 2050 erreicht werden kann, während die Wirtschaft munter weiter wächst?

Henrik hat gerade kürzlich wieder auf Linked-in geschrieben, was er mir damals an der SDSN-Konferenz auch erzählt hat: Wenn er diese Grafik an Vorträgen zeigt, dann beginnen die Leute jeweils zu lachen. Ich nehme an, es ist ein peinlich berührtes Lachen. Die Leute fühlen sich ertappt und wissen gar nicht, wie sie anders reagieren könnten als mit Lachen. Denn dieses Vorhaben, dass die Kopplung von Wirtschaftswachstum und CO2-Ausstoss plötzlich auf wundersame Weise aufgehoben werden kann, erscheint bei genauer Betrachtung tatsächlich: lächerlich!
Wenn eine Regenerative Wirtschaft also weiterhin auf Wirtschaftswachstum setzt, läuft auch sie Gefahr, sich lächerlich zu machen. Dazu kommt, dass meiner Meinung nach der CO2-Ausstoss auch nicht der einzige Indikator für einen gesunden Planeten sein kann. Natürlich macht es sehr viel Sinn, den Ausstoss zu reduzieren, aber eine CO2-freie Welt wird uns schlussendlich nichts nützen, wenn gleichzeitig alle Wälder abgeholzt oder alle Insekten tot sind. Die Reduktion von CO2-Ausstoss ist nur ein Aspekt einer nachhaltigeren Zukunft. Einer, der sich aber halt einfach sehr gut messen und überwachen lässt. Und mit dem man Grafiken erstellen kann, welche die Leute zum Lachen bringen - obwohl die Situation eigentlich gar nicht zum Lachen ist.
Je länger ich diesen Text schreibe, umso mehr spüre ich wieder diese Ohnmacht in mir aufsteigen: Wie soll das alles nur gelingen? Wie sollen wir das anpacken? Was kann ich überhaupt tun? Die Erkenntnis des Tages und zugleich den Mutmacher des Tages habe ich letzten Donnerstag ironischerweise nicht an der Konferenz selbst erhalten. Ich bin am Morgen gemeinsam mit einem Freund nach Zürich gefahren und bereits im Zug haben wir angeregt über das Thema der bevorstehenden Konferenz diskutiert. Wir haben unter anderem auch über “Luzern im Wandel” gesprochen und was daraus geworden ist und dann sagt mein Freund folgenden Satz: Transition Town heisst nicht, gleich die ganze Stadt verändern zu wollen, sondern in deiner Strasse etwas zu bewirken und dort einen Unterschied zu machen - und damit vielleicht andere Strassen zu inspirieren. Und irgendwann werden es so viele Strassen sein, dass man von einer “Transitioned Town” sprechen kann.
Das gefällt mir, damit kann ich etwas anfangen: Beginne vor deiner eigenen Haustüre! Tue dort etwas, wo du wirklich Einfluss hast. Pflege die Ökosysteme, mit denen du direkt in Kontakt bist. Regeneriere in deinem direkten Umfeld - auch dich selber. Und gehe mit gutem Beispiel voran, damit andere folgen können.
Was kannst du vor deiner Haustüre bewirken? Und was könnte Regeneratives Wirtschaften für dich heissen?
Merci für deine Gedanken….. was mir durch den Kopf geht:
- Im Stapferhaus in Lenzburg habe ich kürzlich „Natur“ besucht - die Fragen, die du aufwirfst, begegnen dir auch dort. Antworten findet jeder für sich - schwarz-weiss gibt es nicht. Nachdenken und die Auseinandersetzung damit hilft.
- Super Beispiel mit Texas und St. Gallen… verrückt…. ich bin im nächsten Winter 2 Wochen in den USA (fliegen… ja ich weiss….) und vermutlich erleben wir dort ähnliches in umgekehrter Richtung. Reisen ermöglicht noch einmal einen anderen Zugang zur Welt. Und ja, ich verzichte auch nicht darauf und CO2-Kompensation beruhigt zwar ein wenig mein Gewissen, aber ideal ist das auch nicht.
- Ich habe kürzlich in der SonntagsZeitung ein Interview mit einem Polarforscher gelesen, sehr pragmatisch. Er hat - meinte ich - davon gesprochen, dass eine Trendwende da ist bezüglich CO2-Ausstoss und Wachstum. Google-Suche auf die schnelle fördert dies hier zu tage: https://www.en-former.com/trendwende-in-sicht-co2-emissionen-steigen-nur-leicht/
- Er schlägt vor, CO2 zu bepreisen. Aus meiner Sicht auch das einzige Mittel, das Verhalten verändert - im Wissen um all die Folgeproblemen und als einzelnes Land nicht umsetzbar.
- Wir Menschen sind Teil der Natur. Wir dürfen die Trägheit bei unserer Veränderungsbereitschaft nicht vergessen. Ein Systemwechsel kann nur langsam passieren oder dann in einer absoluten Krisensituation - Corona lässt grüssen. Was dann passiert, haben wir auch erlebt: Nerven liegen blank, Emotionen vernebeln unsere rationale Sicht, Konflitkeskalation. Wenn ich sehe, wie letzten Sonntag gewählt wurde, ist für mich auch klar: Es gibt nur ein schrittweises und langsames Vorgehen. Gesetze müssen ausgewogen sein, sonst erreichen wir gar nichts. Ich verstehe noch heute nicht, wieso das CO2-Gesetz vom Stimmvolk verworfen wurde und denke, wir streuen uns hier noch Salz in die Augen - ich nehme mich davon nicht aus! Doch: Wir haben das grösste Privileg: Wir leben in einer freien demokratischen Welt.
- Ohnmacht beschreibt wohl, was gerade für diese Themen affine jüngere Generationen empfinden. Ich selber bin überzeugt, das Thema „Nachhaltigkeit“ wird uns in den kommenden Jahrzehnten beschäftigen - mit all seinen Facetten. Ich glaube an die Fähigkeit von Menschen, Probleme zu lösen - und dabei wieder neue zu schaffen. Die Erde - und damit dieser Teil der Natur - geht ganz bestimmt nicht unter… mindestens nicht, bis die Sonne ausgebrannt ist in einen Millionen Jahren. Das Leben von uns Menschen wird weiter geprägt sein durch Krisen, Kampf, Freude, Hochgefühle, Auseinandersetzungen, Freundschaften, Liebe, Hoffnung…. gefühlt nichts als kleine Sandkörner. Das tröstet mich ein wenig, wenn die Ohnmacht einmal Überhand nimmt…..