Eine Ökonomie der Verbundenheit
Weitere Gedanken zum Thema Schenkökonomie - und weshalb eigentlich die Zinsen an allem schuld sind.

Der im Juni veröffentlichte Bericht über meine Erfahrungen in der Schenkökonomie war rein von der Anzahl Aufrufen her der erfolgreichste Text, den ich bisher auf diesem Blog veröffentlicht habe. Wie ich dort geschrieben habe, speist sich meine Motivation, einen anderen Zugang zum Thema Geld zu finden und Geldbeziehungen anders zu leben, auch aus einer Kritik am aktuell gelebten Wirtschafts- und Geldsystem. Die ökonomische Prägung ist in unserer Gesellschaft derart stark, dass viel zu oft nur noch Zahlen dominieren und der Blick auf die qualitative Ebene fehlt oder ganz verloren geht. Dass die Dominanz des Quantitativen auch mich stark geprägt hat, davon zeugt bereits der erste Satz in diesem Text: Weshalb bezeichne ich eigentlich einen Text als den erfolgreichsten, wenn er am meisten Aufrufe erreicht hat? Vielleicht gab es ja auch einen anderen Text, der zwar nicht so oft gelesen wurde, aber viel mehr bewegt hat? Könnten wir Erfolg nicht auch ganz anders definieren? Ganz ohne Zahlen?
Im erwähnten Text über meine Erfahrungen mit der Schenkökonomie habe ich einen zweiten Teil angekündigt, in welchem ich mich noch etwas vertiefter mit dem Thema auseinandersetzen möchte. Und das tue ich nun hier. Ausgangspunkt bleibt dabei folgende Beobachtung: Unser auf ständiges Wachstum ausgelegtes Wirtschaftssystem erfordert, dass immer weitere Lebensbereiche ökonomisiert werden, damit dieses propagierte Wachstum auch weiterhin erzielt werden kann. Dazu werden immer mehr Dienstleistungen oder Produkte in das Wirtschaftssystem integriert, die früher frei verfügbar waren (z.B. Kinderbetreuung oder Naturerlebnisse). Gerade in Zeiten von Klimawandel und schwindender Biodiversität ist es jedoch erstaunlich, dass unsere auf Konsum ausgerichtete Wirtschaft noch nicht mehr Kritik erfahren hat. Denn eigentlich müsste es doch allen klar sein: Geld entsteht zu einem grossen Teil aus der Umwandlung von Natur in Produkte, das ökologische Kapital bildet immer die Grundlage des ökonomischen Kapitals. Und die Konsequenz daraus ist: Alles was wir in der Wirtschaft tun, schadet der Natur mehr, als dass es ihr etwas zurückgibt. Zunehmend wird nun auch klar, dass dieses Wirtschaftssystem nicht nur der Natur schadet, sondern auch uns Menschen, unserer Gesundheit und unserer Fähigkeit, Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen.
Aus meiner Sicht wurde während der Corona-Pandemie offengelegt, wie unsere Gesellschaft eigentlich tickt: Die finanzielle Hilfe war auf die Wirtschaft und deren Unternehmen ausgerichtet und nicht auf die Menschen und deren Familien. Klar haben wir Menschen direkt oder indirekt von der Unterstützung der Wirtschaft profitiert, aber wie lässt sich zum Beispiel erklären, dass gemeinsames Singen, Tanzen oder Sport zeitweise verboten wurde, während die Wirtschaft weiterlaufen durfte? Restaurants, Freizeiteinrichtungen, Kulturhäuser oder Sportanlagen wurden geschlossen, während Läden offenblieben. Also Orte, an denen Produkte verkauft werden, blieben offen und Orte, an denen Raum angeboten wird (zum Essen, zum Lernen, zum Sport machen, zum Kultur geniessen, zum Teilen, zum Freude haben, zum Spass haben) mussten schliessen. Dass primär das Herstellen und Verkaufen von Produkten, also der Konsum geschützt werden sollte, wurde für mich schliesslich dann deutlich, als für den Besuch einer Bibliothek ein 2G-Zertifikat notwendig wurde, während Bücherläden weiterhin ohne Zertifikat besucht werden konnten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es für einen Menschen in einer Bibliothek gefährlicher gewesen wäre, sich mit Covid anzustecken, als in einer Buchhandlung. Aus meiner Sicht wurden die Massnahmen bewusst so gewählt, damit der Wirtschaftsapparat möglichst wenig eingeschränkt wird. Bücher kaufen, bitte ja - Bücher ausleihen, bitte nein.
Die Corona-Zeit liegt zum Glück hinter uns und wir alle dürfen uns wieder im gewohnten Umfang frei bewegen. Das Muster, welches in der Corona-Zeit aufgedeckt wurde, hat aber nach wie vor Bestand und lautet ein wenig abgeändert: Produkte und Dienstleistungen verkaufen, bitte ja - Produkte und Dienstleistungen verschenken, bitte nein. Die Politik hat kein Interesse daran, dass mein Nachbar mir mein Fahrrad repariert, dass ich für jemand anderes dessen Steuererklärung ausfülle oder meine Schwiegereltern unsere Kinder betreuen. Denn für die Wirtschaft wäre es besser, einen Velomechaniker, einen Treuhänder und eine Kindertagesstätte zu bezahlen. Denn das Bruttoinlandprodukt muss bitte gefüttert werden, die Zahlen müssen stimmen, die Wirtschaft muss wachsen.
Mit Geld für die Hilfe anderer bezahlen: Was für uns mittlerweile so selbstverständlich ist, zerstört beim genauen Hinschauen langsam aber sicher die Gemeinschaften, in denen wir leben. Uns wird beigebracht, dass Geld uns unabhängig macht, aber eigentlich werden wir damit nur abhängiger, und zwar von Menschen, die weit weg von uns Produkte für uns herstellen - während wir die Menschen in unserer Nachbarschaft nicht mehr kennen. Charles Eisenstein nennt diese Auswirkung des Geldsystems in seinem Buch “Sacred Economics” als Hauptgrund für den Rückgang der Bedeutung von lokalen Gemeinschaften in unserer modernen Gesellschaft. Und er ergänzt: Wie können wir Gemeinschaft schaffen, wenn wir für alles bezahlen, was wir brauchen?
Vor allem wenn wir uns vor Augen führen, wie das Leben auf unserem Planeten begonnen hat, wie jedem von uns Menschen das Leben geschenkt wurde, dann erscheint es absurd, dass das Leben von so vielen Menschen heutzutage dominiert wird von der Frage, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen können (auf Englisch: “make a living”). Der irische Aktivist Mark Boyle, der mehrere Jahre ohne Geld gelebt hat, hat das in einem Interview vor ein paar Jahren sehr treffend formuliert: „The way we live today you almost got to pay to be on the earth which is a bizarre thing when you consider other species. We need planning permission to be in the countryside, to build yourself a simple dwelling. We don’t ask that of a bird or an otter or a badger. Why do we ask ourselves, why can we not be part of that landscape?“
Es scheint, als hätten wir Menschen uns mit unserem Wirtschaftssystem und dem technologischen Fortschritt, den es uns gebracht hat, immer wie mehr vom Geschenk des Lebens entfernt - oder aus der Landschaft entfernt, wie Mark Boyle es genannt hat. Ob wir das Leben als etwas ansehen, das wir uns zuerst verdienen müssen oder als etwas, das uns geschenkt wurde, hat sehr viel mit der Geschichte zu tun, die wir uns über unsere Welt erzählen. Beherrschen wir Menschen die Natur oder sind wir Teil der Natur? Leben wir in einem Narrativ der Trennung oder in einem Narrativ der Verbundenheit? Wer meinen Blog regelmässiger liest, weiss unterdessen, dass ich hier das Narrativ der Verbundenheit erkunden und mir Gedanken dazu machen möchte, wie wir diese Verbundenheit in unseren modernen westlichen Gesellschaften im 21. Jahrhundert wieder finden könnten. Und ich glaube, das hat sehr viel damit zu tun, wie wir mit Geld umgehen und was wir aus unserer Beziehung zum Geld machen.
„In the story of Interbeing, life is a gift. The world and everything in it is a gift. We did not earn our lives. We did not earn the sun; it is not thanks to our hard efforts that it shines. We did not earn the ability of plants to grow. We did not earn water. We did not earn our conception nor our breath. Our hearts beat and our livers metabolize all on their own. Life is a gift.“
Charles Eisenstein in seinem Essay “Shadow, Ritual, and Relationship in the Gift”
Weshalb braucht die Wirtschaft überhaupt immer mehr Wachstum?
Ich muss zugeben: Sehr lange habe ich nicht so recht verstanden, weshalb die Wirtschaft immer weiter wachsen soll. Obwohl ich dem berühmten Zitat von Mahatma Gandhi „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier“ grundsätzlich folgen kann, glaube ich nicht, dass unsere Welt derart von Gier dominiert wird, dass die Wirtschaft einfach immer weiter wachsen muss, um diese zu stillen. Ist das Bedürfnis nach ständigem Wachstum vielleicht dadurch entstanden, dass die Menschen sesshaft geworden sind? Die Landwirtschaftliche Revolution hat schliesslich dazu geführt, dass alle immer ihre Speicher für den Winter füllen müssen. Aber irgendwann ist jeder Speicher für den Winter gefüllt, weshalb wird dann trotzdem immer noch mehr produziert? Dass die Absichten des Menschen nicht grundsätzlich schlecht sind, obwohl sie manchmal so dargestellt werden, hat der Historiker Rutger Bregman in seinem empfehlenswerten Buch “Im Grunde gut” mit vielen Beispielen belegt. Wenn es also nicht Gier ist, nicht die Sesshaftwerdung und auch nicht eine womöglich “schlechte Art” der Menschen, weshalb ist dann dieses Narrativ des ständigen Wirtschaftswachstums trotzdem so stark? Wie konnte es zu einem solchen Zwang, ja fast zu einem Gesetz werden?
Diesen Frühling habe ich das Buch “Sacred Economics” von Charles Eisenstein zum ersten Mal komplett gelesen, nachdem ich es schon eine Weile in meinem Regal hatte. Und hier habe ich nun endlich eine für mich schlüssige Antwort gefunden: Es liegt an den Zinsen. Weil unser Geldsystem mit Zinsen operiert, muss die Geldmenge immer grösser werden, muss die Wirtschaft ständig wachsen. Weshalb dem so ist, schildert Eisenstein eindrücklich in einer “Ökonomischen Parabel” (siehe Kapitel 6.1), welche er bei Bernard Lietaer und dessen Buch “The Future of Money” entlehnt hat. Die Parabel lautet, ein wenig gekürzt, in etwa so:
In einem Dorf leben Menschen friedlich zusammen, indem sie Tauschgeschäfte für all ihre Transaktionen verwenden. Immer am Markttag treffen sie sich und bringen Hühner, Eier, Fleisch, Brot und dergleichen mit, um in ausgedehnten Verhandlungen das zu tauschen, was sie gerade benötigen. Und wenn jemand Hilfe braucht, um die Ernte einzubringen oder eine Scheune zu reparieren, dann helfen sie sich gegenseitig.
Eines Tages taucht am Markttag ein Fremder auf und belächelt die Bauern, die gerade ihre Hühner auf den Marktplatz treiben. Er verkündet, er hätte eine bessere Lösung für die Dorfleute. Er verteilt jeder Familie 10 Münzen aus Leder und erklärt, dass jede Münze ein Huhn repräsentiere. Ab jetzt könnten sie mit den Münzen handeln und müssten nicht mehr alle Hühner auf den Marktplatz treiben. Alle waren beeindruckt und sein Vorschlag schien Sinn zu machen. Zum Schluss sagte er noch eher beiläufig, dass er in einem Jahr wiederkommen werde und erwarte, dass er dann von allen 11 Münzen zurückerhalte. Die zusätzliche Münze sei als Anerkennung für den technologischen Fortschritt zu verstehen, den er ihnen gebracht habe.
Aber wo sollen die Familien diese zusätzliche Münze herkriegen? Diese 11. Münze wurde nie kreiert, daher würde es nicht anders gehen, als dass immer eine aus elf Familien alle 10 Münzen verlieren muss, damit sie diese 11. Münze für 10 weitere zur Verfügung stellen kann.
Es war zwar viel angenehmer, mit den Münzen statt mit Hühnern zu handeln, aber die gegenseitige Unterstützung im Dorf wurde durch das neue System gehemmt. Wenn nun wieder einmal ein Sturm die Ernte von jemandem bedrohte, waren die Leute weniger gewillt, den anderen zu helfen. Das neue Geld entwickelte einen systembedingten Sog zum Wettbewerb zwischen allen Dorfbewohnern.
Charles Eisenstein schreibt zu dieser ökonomischen Parabel, dass die Menschen den Fremden nun natürlich darum bitten könnten, ihnen weitere Münzen zu leihen, damit sie ihm die 11. Münze zurückzahlen können. Das würde er aber nur tun, wenn sie ihn überzeugen können, dass sie die Münzen im nächsten Jahr wieder werden zurückzahlen können - wiederum mit einer zusätzlichen Münze, also 10% Zinsen. Er könnte auch zusätzliche Münzen ausstellen für alle, die in einem Jahr mehr als 10 Hühner haben und dabei die Hühner als Sicherheit verwenden. Die Dorfbewohner werden also bestrebt sein, ihre Hühnerherden zu vergrössern und auch wenn einzelne Bauern Konkurs gehen, werden die Herden insgesamt jedes Jahr 10% grösser werden - synchron mit der Geldmenge.
Irgendwann wird klar werden, dass eigentlich niemand so viele Hühner braucht. Damit der Konsum von Hühnern konstant weiter wächst, werden sie daher immer neue Hühner-Produkte erfinden müssen. Zum Beispiel ist denkbar, dass es Mode werden könnte, jeden Monat eine neue Matratze aus Hühnerfedern zu kaufen. Und irgendwann wird das ganze Dorf voller Hühner sein, die Böden und Felder werden eingehen aufgrund der Monokultur - die Menschen ertrinken sprichwörtlich in Hühnerkacke. Und sobald auch in den Nachbardörfern zu viele Hühner gezüchtet wurden, wird das Wachstum abnehmen. Und die Schulden steigen. Immer weniger Menschen werden sich Hühnerprodukte leisten können, was es noch schwieriger machen wird, die Nachfrage und damit das Wachstum aufrecht zu erhalten. Inmitten eines absoluten Überflusses an Hühnern werden immer mehr Menschen kaum genug haben zum Überleben. Es entsteht das Paradox der Knappheit inmitten eines eigentlichen Überflusses.
Eisenstein schliesst dieses Kapitel in seinem Buch mit den Worten: And that is where things stand today. So sieht es heute aus. Inmitten von Überfluss entstand grosse Knappheit.
Konsumstreik und Schenkökonomie als möglicher Ausweg
Zugegeben, diese Hühnerparabel ist ziemlich wild. Dennoch kann ich darin erkennen, wie unser heutiges Wirtschaftssystem funktioniert. Und welche Folgen es mit sich bringt: Aufgrund der Zinsen ist die insgesamt geschuldete Geldmenge jederzeit grösser als die Menge des Geldes, die bereits existiert. Um neues Geld zu kreieren, damit das System weiter funktionieren kann, müssen wir laufend mehr Hühner züchten - in anderen Worten: ständig noch mehr neue Produkte und Dienstleistungen kreieren. Und meist geschieht dies, indem etwas verkauft wird, was vorher gratis war. Man verwandelt Natur in Produkte, gesellschaftliches Geben und Nehmen in bezahlte Dienstleistungen. Die entscheidende Frage ist dabei aus meiner Sicht, wie viel im Jahre 2024 überhaupt noch übrigbleibt, das noch nicht ökonomisiert, noch nicht Teil des Geldsystems wurde? Und: Wann uns das alles um die Ohren fliegen wird.
Weil immer mehr Produkte verkauft werden müssen, damit mit dem neuen Geld die Zinsen bezahlt werden können, hat der Konsum heute einen derart hohen Stellenwert. Es fällt schwer sich vorzustellen, wie man als kleiner Bürger etwas gegen dieses System unternehmen könnte. Das Naheliegendste ist aus meiner Sicht: In diesem Konsumspiel einfach nicht mehr mitmachen, wenn immer möglich nichts kaufen. Henrik Nordborg, Professor an der Hochschule für Technik in Rapperswil, hat bereits 2019 einen Konsumstreik ausgerufen und ich finde diesen Ansatz vielversprechend. Vor ein paar Jahren habe ich für mich entschieden, dass ich kaputte Geräte oder Kleider immer zuerst versuchen möchte selbst zu flicken, bevor ich sie ersetze. Zugegeben: Ich bin kein guter Handwerker und meine Reparaturen haben leider nicht immer gehalten. Aber ich habe viel gelernt und kaufe heute bewusst nur noch sehr wenig Neues. Gerade für unsere Kinder finden wir praktisch alles, was wir benötigen, gebraucht im Brockenhaus oder auf tutti.ch. Und wir haben auch unglaublich viele Kinderkleider geschenkt erhalten! Eigentlich könnte man per sofort die Produktion von Kinderkleidern stoppen und es hätte noch auf Jahre hinaus genügend Kinderkleider auf der ganzen Welt. Ich vermute, dass dies auch bei Kleidern für Erwachsene der Fall wäre: Es gibt genug Kleider auf der Welt, man muss keine neuen mehr produzieren. Die Modebranche sagt denn auch bereits mit dieser Bezeichnung - “Modebranche” - um was es ihr wirklich geht: Immer wieder muss etwas Neues in Mode sein, damit die Menschen dazu verleitet werden, laufend neue Kleider zu kaufen, obwohl ihr Kleiderschrank längst voll ist. Es werden folglich nicht neue Kleider vermarktet, sondern neue Moden. Ein Konsumstreik würde bei Kleidern auch daher sehr viel Sinn ergeben, weil die Textilbranche insgesamt eine der dreckigsten ist: Massive Umweltbelastung und äusserst prekäre Arbeitsbedingungen (für mehr Informationen siehe z.B. “The True Cost”). Dass “Shopping” zu einem akzeptablen Hobby werden konnte, ist vor diesem Hintergrund eigentlich pervers.
Wenn wir beim Konsum nicht mehr mitmachen, nichts mehr kaufen, Nein sagen dazu, dass ständig neue Produkte “für uns hergestellt werden müssen”, dann öffnet sich ein anderer Weg, den wir wählen können um unsere Bedürfnisse zu befriedigen: Das bewusste Pflegen von Beziehungen, das Erbringen von Geschenken, das Geben und Empfangen in einer lokalen Gemeinschaft. Kurz: Elemente einer Schenkökonomie. Im Privaten könnten dies etwa Kleidertauschabende oder Repair Cafés sein, oder auch einfach seine Nachbarn zu kennen und sich gelegentlich gegenseitig zu unterstützen. Elemente einer Schenkökonomie lassen sich aber auch im Wirtschaftsleben integrieren und es ist alles andere als unmöglich, einen Teil seines Lebensunterhalts auf diese Art und Weise zu erzielen.
Mögliche Formen für das Wirtschaften in Schenkökonomie
In meinem ersten Text zum Thema habe ich ausführlich beschrieben, wie ich seit mehreren Jahren einen Grossteil meiner Arbeitszeit verschenkt habe. Mein Verfahren baut stark auf eine gemeinsame Reflexion, es sind aber auch einfachere Ansätze denkbar, um in einer Schenkökonomie zu wirtschaften. Nach Charles Eisenstein sollten dabei lediglich die folgenden zwei Prinzipien berücksichtigt werden:
Der Empfänger und nicht der Schenkende bestimmt den "Preis" (das Gegengeschenk).
Das Gegengeschenk wird nach Erhalt des ursprünglichen Geschenks ausgewählt, nicht vorher.
Eine einfache und vor allem im Kulturbereich verbreitete Form könnte etwa darin bestehen, dass eine Box aufgestellt wird, in welche die Besucher eines Anlasses oder Teilnehmerinnen eines Seminars beim Hinausgehen einen Geldbetrag ihrer Wahl legen können. In ähnlichem Sinn und Geist könnte auch eine Rechnung ohne Betrag verschickt werden, wo der Empfänger selbst einen passenden Betrag einfügen kann. Eisenstein nennt in seinem Buch das Beispiel einer Anwaltskanzlei, die Rechnungen mit einem marktüblichen Preis stellt und zusätzlich aber noch ein Feld “Wertanpassung” einfügt. Die Klienten können hier eine positive oder negative Zahl einfügen und den Gesamtbetrag dadurch so anpassen, wie es für sie stimmig ist.
Vor allem bei Anlässen, die im “Pay-what-feels-right”-Modus angeboten werden, ist es verbreitet, dass es einen “empfohlenen Betrag” gibt, der mit der Einladung kommuniziert wird. Ich persönlich finde es eher schwierig, wenn mir gesagt wird, dass ich einfach so viel bezahlen soll, wie es mir wert ist und aber gleichzeitig eine Empfehlung erhalte, was ein passender Betrag sein könnte. Daher wäre es für mich passender, wenn eine Geldspanne angegeben würde oder mehrere Beträge vorgeschlagen würden, aus denen ich einen stimmigen Betrag auswählen könnte. Vor ein paar Jahren gab es eine sehr spannende Ausstellung zum Thema Geld im Stapferhaus in Lenzburg und hier wurde genau das aus meiner Sicht sehr gut umgesetzt. Man konnte die Ausstellung betreten, ohne Eintritt zu bezahlen und kam dann am Schluss des Rundgangs automatisch an der Kasse vorbei, wo man den Betrag, den man für den Ausstellungsbesuch bezahlen möchte, selbst festlegen konnte. Als Unterstützung wurde genannt, was zum Beispiel ein Kinoticket, ein Besuch in der Oper oder der Besuch eines Fussballmatches kostet. Diesen Vergleich fand ich sehr hilfreich und ich konnte für mich sehr einfach einen stimmigen Betrag finden, den ich dann an der Kasse bezahlt habe.
Wenn es darum geht, in einer Gruppe Geld zu verteilen, kenne ich zwei konkrete Vorgehensweisen, wie das im Sinne der Schenkökonomie gemacht werden könnte. Der erste Ansatz basiert auf dem von mir verwendeten Modell mit den zwei Runden. Vor ein paar Jahren wurde ich gefragt, ob ich mit meiner Erfahrung auf diesem Gebiet mithelfen könnte, in der Co-Learning-Schule im Effinger in Bern eine “Schatzhebung” zu moderieren. Das Ziel war, dass die Eltern der Kinder, welche diese Schule besuchen, reflektieren können, welchen Betrag sie für die Leistungen der Schule geben möchten und gleichzeitig die Lernmoderatorinnen reflektieren, welchen Betrag sie für ihre Arbeit mit den Kindern gerne empfangen möchten. Wir haben dazu denselben Prozess verwendet, den ich auch für mein “Consulting in the Gift” verwende und im Wesentlichen die Reflexionsfragen angepasst. Der Gastgeber Marco Jakob hat diesen Prozess wunderbar als “Geben und Empfangen” bezeichnet und auf seinem Blog ausführlich beschrieben. Das Beispiel zeigt für mich eindrücklich, wie auch mit knappen Ressourcen genügend Mittel vorhanden sein können, wenn bewusst Raum für Dankbarkeit geschaffen wird. Denn: Schlussendlich ist sogar noch ein wenig Geld übriggeblieben, da alle das Gefühl hatten, bereits genug erhalten zu haben.
Das zweite mir bekannte Beispiel, wie Geld in einer Gruppe im Sinne der Schenkökonomie verteilt werden könnte, ist die Methode des “Geldbrunnens”, welche von Lino Zeddies auf der Grundlage eines Geldspiels entwickelt wurde. Hierbei wird das verfügbare Geld in Form von Spielgeld in die Mitte gelegt und nacheinander werden dann kleine Beträge aus der Mitte zu den einzelnen Personen verschoben, bis es insgesamt ein stimmiges Bild ergibt. Der Ablauf sieht zusammengefasst wie folgt aus:
Einstiegsrunde: In welcher Stimmung bist du hier?
Klärung der Prinzipien und Kriterien, nach denen das Geld verteilt werden soll
Eine Runde, in der jede Person ihre Situation in Bezug auf diese Kriterien darlegt
Eine Runde zu potenziellen Triggern, Ängsten und Bedenken bezogen auf den anstehenden Verteilungsprozess
Hauptteil des Geldbrunnens
Eine Person beginnt, nimmt einen frei wählbaren Betrag aus der Mitte und legt diesen mit einer kurzen Begründung zu einer Person im Kreis.
Wenn mehrere Personen begünstigt werden, muss für alle der gleiche Betrag gewählt werden.
Jede Person macht reihum einen “Zug”, wobei das Geld nicht nur aus der Mitte, sondern auch vom eigenen “Geldvorrat” oder dem einer anderen Person genommen werden darf. Man darf auch sich selbst begünstigen.
Ist man am Zug, darf man auch aussetzen oder mitteilen, dass man mit der aktuellen Verteilung gut leben kann und nichts mehr verändern möchte.
Der Geldbrunnen dauert so lange, bis alle im Kreis mit der aktuellen Verteilung gut leben können.
Wichtig: Es dürfte unmöglich sein, die perfekte und absolut faire Verteilung des Geldes zu finden. Daher wird bewusst lediglich eine Verteilung angestrebt, mit der alle gut leben können (im Sinne von “Good enough for now & safe enough to try”)
Schlussrunde: Wie hast du den Prozess erlebt? Was möchtest du zum Schluss noch sagen?
Lino hat seine Erfahrung mit diesem Prozess auf seinem Blog beschrieben und auf Youtube zeigt er einfaches Beispiel, wie der Geldbrunnen in der Praxis aussehen könnte.
Ein schönes Beispiel, wie Produkte in einem “Pay-What-Feels-Right”-Modus frei angeboten werden können, findet sich meiner Meinung nach beim Autoren Frederic Laloux, der sein Buch “Reinventing Organizations” auf seiner Homepage zum freien Download anbietet. Laloux weist darauf hin, dass sein Buch nicht “gratis” sei, sondern dies vielmehr eine Einladung darstelle, sich bewusst Gedanken darüber zu machen, wie viel Wert das Buch für einen entwickelt hat. Wer das Buch über diesen Link herunterlädt, wird automatisch einen Monat später eine E-Mail erhalten mit der Einladung, einen passenden Betrag zurückzugeben.
Es gibt auch Beispiele von Restaurants, welche die Schenkökonomie mittels “Pay-it-forward”-Prinzip leben. Wer in einem Restaurant der “Karma Kitchen” isst, wird eine Rechnung erhalten mit einem Betrag von USD 0.00. Wichtig ist hierbei aber die Fussnote: “Your meal was a gift from someone who came before you. To keep the chain of gifts alive, we invite you to pay it forward for those who dine after you." Ähnliches ist grundsätzlich denkbar mit jeglicher Form von Eintritten oder Dienstleistungen (vgl. Abschnitt zu “Pay-it-forward” in Teil 1).
Meiner Ansicht hat eine Schenkökonomie in einer Gemeinschaft die grössten Chancen, langfristig und nachhaltig zu funktionieren. Aus meiner Sicht ist “Couchsurfing” ein sehr gutes Beispiel dafür, wie das gegenseitige Schenken in einer lebendigen Gemeinschaft funktionieren kann und gleichzeitig das Geben oder Empfangen von Geschenken ein Gemeinschaftsgefühl entstehen lassen kann. Persönlich habe ich zuerst einige Male selbst vom Geschenk einer “Couch” zum Übernachten profitiert, bevor ich einen Schlafplatz angeboten habe. Das ist jedoch bereits ein paar Jahre her und ich weiss nicht, was aus der Community mittlerweile geworden ist. Ich finde es aber ein gutes Beispiel, wie ein aus Dankbarkeit entstandenes Zugehörigkeitsgefühl das Funktionieren einer Schenkökonomie tragen kann.
Das “Freecycle”-Netzwerk ist ein weiteres Beispiel, wie solche Gemeinschaften online kuratiert werden können. Ausgehend aus den USA ist Freecycle mittlerweile in über 100 Ländern angekommen. In tausenden lokalen Gruppen werden Gegenstände verschenkt, was nicht zuletzt auch sehr viel Abfall einspart. Auf der Freecycle-Homepage steht passenderweise: “By giving freely with no strings attached, members of The Freecycle Network help instill a sense of generosity of spirit as they strengthen local community ties and promote environmental sustainability and reuse. People from all walks of life have joined together to turn trash into treasure.” Die Bezeichnung “Cycle” ist dabei sehr bewusst gewählt: Das zentrale Element einer grösser gedachten Schenkökonomie ist der Zyklus, das Zirkulieren, der freie Fluss von Geschenken. Geben und Empfangen sind untrennbar verbunden. Die Dankbarkeit der Beschenkten sorgt dafür, dass der Fluss der Geschenke weitergeht.
Schenkökonomie leben in der Nachbarschaft
Das Wirtschaften mit Elementen einer Schenkökonomie könnte meiner Meinung nach dazu führen, dass andere Formen von (Wirtschafts-)Beziehungen gelebt werden können. Ja, dass vielleicht sogar neue Gemeinschaften entstehen können. Dies erscheint mir wichtig und erstrebenswert, da unser aktuelles Wirtschaftsmodell aus meiner Sicht sehr destruktiv ist, gerade weil es lokale Gemeinschaften überflüssig macht oder gar aktiv zerstört. Entsprechend ist es naheliegend, Elemente einer Schenkökonomie auch in der eigenen Nachbarschaft zu leben. Eine sehr einfache Möglichkeit hierfür ist das bewusste Teilen von Alltagsgegenständen. Bereits 2012 wurde in Bern zu diesem Zweck das Projekt “Pumpipumpe” gegründet, bei welchem mittlerweile über 20’000 Haushalte in ganz Europa mitmachen. Das Vorgehen ist denkbar einfach: Auf der Website kann ein Stickerbogen bestellt werden, mit diesen Stickern kann schliesslich ganz einfach am eigenen Briefkasten signalisiert werden, welche Gegenstände bei einem ausgeliehen werden können. Es gibt Sticker für alle möglichen Haushalts-, Garten- oder Sportgeräte sowie auch leere “Joker”-Sticker, die selbst bemalt werden können. Wenn man seine Nachbarn kennt, ergeben sich diese kleinen Hilfestellungen natürlich auch in spontanen Gesprächen. Wer in einem grösseren Gebäude oder einem Wohnblock lebt, begegnet seinen Nachbarn aber in der Regel äusserst selten. Die kleinen Kleber am Briefkasten können daher eine bewusste Einladung darstellen, miteinander in Kontakt zu kommen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Eine weitere Möglichkeit, eine Schenkökonomie in der Nachbarschaft zu stärken, besteht darin, bewusst einen “Gift Circle” zu gründen. Einen Schenkkreis, dessen Mitglieder sich bewusst gegenseitig unterstützen, indem sie sich ihre Zeit oder Gegenstände gegenseitig schenken. Dies könnte zum Beispiel so aussehen, dass der Gift Circle sich wöchentlich trifft und die Teilnehmenden in einer Runde sagen, was sie gerne geben oder gerne empfangen möchten. Eisenstein beschreibt in “Sacred Economics” wie sich in solchen Kreisen oftmals Wünsche und Bedürfnisse “wie von selbst” ergänzen. Und auch hier: Die Dankbarkeit anderer zu erleben führt dazu, dass es den Mitgliedern immer wie einfacher fällt, selbst um Hilfe zu fragen oder Geschenke anzubieten. Ein einfacher Ablauf eines Gift Circle-Treffens könnte wie folgt aussehen:
Check-in: Die Leute nennen ihren Namen und erzählen kurz etwas über ihre Erfahrungen und ihre Talente
Bedürfnisse teilen: In einer Runde können die Teilnehmenden aussprechen, was sie aktuell gerade brauchen (z.B. Jemanden der die Pflanzen giesst, Unterstützung bei Arbeiten im Haus oder Hilfe beim Verfassen eines Briefes)
Angebote teilen: In einer Runde kann jede Person teilen, was sie der Gruppe anbieten möchte. Als Variante können die Angebote auch auf kleine Zettel geschrieben und in die Mitte gelegt werden - wer immer das Angebot gebrauchen kann, darf danach den Zettel aufnehmen.
Dankbarkeit teilen: Die Teilnehmenden können in einer Runde ihre Dankbarkeit ausdrücken für Hilfe und Unterstützung, welche sie aus früheren Kreistreffen erhalten haben.
Planung: Die Personen können zusammenfinden und sich organisieren, um die Geschenke zu teilen.
Eine Möglichkeit, den Prozess des Schenkens noch ein wenig anders, und vielleicht effizienter, zu gestalten, ist die Verwendung von Namensschildern, auf denen jede Person schreibt, was sie gerade braucht und was sie anbieten kann. Die Teilnehmenden des Schenkkreises könnten sich danach selbst organisieren und schauen, ob sie im Raum jemanden finden, dem sie helfen können oder der ihnen helfen kann.

Natürlich wäre es auch möglich, einen Gift Circle online zu gründen oder den Austausch über eine Whatsapp-Gruppe zu pflegen. Der persönliche Kontakt scheint mir aber der entscheidende Punkt, damit das Schenken wirklich in Fluss kommen kann. Und ich denke, dass ab einer gewissen Grösse die Gruppe zu unpersönlich werden dürfte. Bernd Hellinger hat etwa festgehalten, dass das von ihm beobachtete Ausgleichsprinzip lediglich in einer Gruppengrösse von 20 bis 30 Personen wirkt und darüber hinaus nicht mehr. Dies dürfte ein möglicher Nachteil von grossen Systemen wie z.B. Freecycle sein: Dass schlussendlich ähnliche unpersönliche Beziehungen und Profitgedanken (im Sinne von “Hier kann ich profitieren”) entstehen können, wie im kritisierten Wirtschaftssystem.
Eine Schenkökonomie muss lebendig sein und reflektiert ganz grundsätzliche Prinzipien der Natur. Ein Wald ist eine Schenkökonomie. Eine Ameise frisst ein Insekt von einem Baum, was diesen gesund hält und ihm ermöglicht, Unterschlupf für Vögel zu bieten, welche später ausfliegen und seine Samen verteilen. Niemand der hier beteiligten Akteure strebt nach Profit, wenn sie so handeln. Sie stellen sich einfach für das Ganze zur Verfügung, im Wissen, dass ihr Überleben davon abhängt. Wo wenn nicht in unserer unmittelbaren Nachbarschaft könnten wir Menschen uns auf eine ähnliche Weise einbringen?
Eine Ökonomie der Verbundenheit ist möglich
Grundsätzlich bezieht sich meine Kritik zum aktuellen Wirtschaftsmodell auf das Dogma des ewigen Wachstums, weil es aus meiner Sicht nicht zu der äusseren Welt passt, in der wir aktuell leben. Was wir “Ressourcen” nennen, ist nicht endlich resp. erneuert sich viel langsamer, als wir Menschen uns davon bedienen. Das aktuelle kapitalistische System ist für den Planeten zu ausbeuterisch, es fehlt aus meiner Sicht die Verbindung zur Landschaft und dass wir gemeinsam die Verantwortung übernehmen, uns darin achtsam zu bewegen und nur so viel zu nehmen, wie wirklich notwendig ist. Das gemeinsame Gestalten und Pflegen von “Commons” stellt daher eine Alternative zum aktuell gelebten Kapitalismus dar und ist eigentlich bereits seit Jahrhunderten erprobt. In der Schweiz sind viele Alpweiden etwa bis heute als “Allmende” organisiert, wobei die beteiligten Landwirte das Recht haben, ihr Vieh nach bestimmten Nutzungsregeln weiden zu lassen. Durch die Allmende wird sichergestellt, dass die Weiden nicht übernutzt werden und alle Beteiligten langfristig und nachhaltig daran teilhaben können. Auch mein Grossvater war durch ein sogenanntes “Kuhrecht” auf diese Weise an einer Alpweide beteiligt.
Andreas Weber nimmt in seinem Buch über die Genialität der Indigenen Völker (“Indigenialität”) ebenfalls Bezug auf die Allmende und spricht dabei von einer “Ökonomie der Gabe”: Alle nutzen, alle schützen, alle erhalten, alle tragen etwas bei. Dabei stellt er ebenfalls Verbindungen zur Schenkökonomie her. Die Bedeutung des Schenkens zeigt sich laut Weber bei Indigenen Völkern etwa in den Dankbarkeitsritualen, in denen sie zeigen, dass sie das, was sie zum Leben brauchen als Geschenk empfangen haben und die Verantwortung dafür übernehmen, es nicht zu verschwenden. Dies ist Teil der “Ehrenvollen Ernte”, wie ich sie in einem früheren Text bereits wiedergegeben habe.
Ein wesentlicher Unterschied dieser alten ökonomischen Muster zum heutigen Wirtschaftssystem besteht darin, dass dem heutigen System die Annahme zu Grunde liegt, dass der Mensch selbstsüchtig handelt. Nicht nur die Muster der indigenen Völker sondern auch althergebrachten Commons zeigen uns aber, dass es möglich ist, Wirtschaftssysteme auch auf der Annahme aufzubauen, dass der Mensch gerne selbstlos ist. Dazu gehört, dass wir Glaubenssätze zum Thema Geld überwinden können, die weit verbreitet und teilweise tief in uns verankert sind. Menschen wie Mark Boyle (aka “The Moneyless Man”) zeigen uns auf, dass es möglich ist, komplett ohne Geld zu leben. Um das zu schaffen, ist es gemäss Boyle notwendig, all das, was man üblicherweise mit Geld tut, durch eine Beziehung zu ersetzen. Entweder durch eine Beziehung zur Erde oder durch eine Beziehung zu Menschen um dich herum. Dies werde möglich, wenn man die Brille “How much can I get?” durch eine neue Brille ersetzt: “How much can I give?”. Boyle lebt heute nicht nur ohne Geld, sondern auch ohne moderne Technologie. Im Jahre 2022 schrieb er in einem Artikel, dass er mehr und mehr realisiere, dass es ihm gar nicht darum gehe, die Welt zu retten, sondern vielmehr: die Welt zu geniessen.
„The point is, I'd much rather have my time consumed making my own bread outdoors than kill it watching some reality TV show in a so-called "living" room.“
Mark Boyle in seiner Artikel-Serie zum Leben ohne Geld in “The Guardian”
Stell dir folgendes Szenario vor: Ich habe etwas, was du gerade brauchst, und wünsche mir, dir das zu geben. Du fühlst dich dankbar und hast das Bedürfnis mir etwas zurückzugeben. Da du jedoch aktuell gerade nichts hast, was ich brauche, übergibst du mir stattdessen ein Symbol deiner Dankbarkeit. Etwas Nutzloses, aber Schönes, z.B. eine Kette oder einen schönen Stein. Dieses Symbol sagt “Ich habe die Bedürfnisse anderer Menschen erfüllt und ihre Dankbarkeit verdient.” Wenn ich nun später von jemandem etwas erhalte und gerade nichts zurückgeben kann, was diese Person gebrauchen kann, dann kann ich ihr dieses Symbol geben.
Anhand dieses Szenarios beschreibt Charles Eisenstein eine alternative Deutung, wie Geld entstanden sein könnte: Als Symbol der Dankbarkeit. In dieser Deutung ist Geld tief mit dem Akt des Schenkens verbunden. Wäre es nicht möglich, dem Geld wieder diese ursprüngliche Bedeutung zukommen zu lassen? Für mich kommt an dieser Stelle noch einmal der starke Einfluss des Zinssystems ins Spiel: Jemandem Geld nur gegen Zinsen zu leihen ist ein sehr starker Ausdruck der Haltung “How much can I get?”. Wer die Haltung “How much can I give?” ausdrücken möchte, hat allerdings bereits heute eine relativ einfache Lösung zur Verfügung: Ein zinsloses Darlehen.
Natürlich ist es nicht ganz so einfach, seine Haltung in Bezug auf das Thema Geld zu ändern. Wir sind derart stark durch das aktuelle Geldsystem geprägt, dass uns unsere individuellen Projektionen in das Geld (z.B. “Geld ist Wertschätzung” oder “Geld ist Sicherheit”) oftmals im Wege stehen, um neue Formen im Umgang mit Geld zu explorieren. Kürzlich habe ich einen Geldbrunnen moderiert in einem eigentlich sehr fortschrittlichen Team, mit dem ich schon eine Weile arbeite, und war überrascht, wie viele Emotionen dieser Prozess in der Gruppe ausgelöst hat. Mir wurde dadurch erneut bewusst, wie wichtig es ist, dass jede Person selber bestimmen kann, ob und wie schnell sie neue Wege beschreiten möchte.
Vor ein paar Wochen bin ich im Netz über folgende Affirmationen gestolpert, die vielleicht den einen oder anderen Denkanstoss geben könnten, um die eigene Beziehung zu Geld und zum kapitalistischen Wirtschaftssystem zu überdenken:
Hängen bleibe ich hier unter anderem beim letzten Satz: “Ich werde nicht die Gesellschaft entscheiden lassen, wie Erfolg aussieht. Ich kann selber definieren, was ein erfolgreiches Leben für mich bedeutet.” Denn das ist genau das, was ich früher jeweils geantwortet habe, wenn mich jemand gefragt hat, ob ich mit meiner Musik erfolgreich sei: Ja, denn ich mache mir meine eigene Definition von Erfolg. Man kann seine CDs selbst produzieren und nur Wohnzimmerkonzerte spielen und trotzdem ein erfolgreicher Musiker sein. Wer sagt denn, dass man in der “Musikindustrie” zwingend mitmachen muss? In meiner Musik habe ich die ersten Gehversuche in Schenkökonomie gemacht, daher schliesse ich den zweiten Text mit diesem Bogen ab. Wer sagt denn, dass man beim Wirtschaftswachstum zwingend mitmachen muss?
Wie definierst du für dich Erfolg? Gibt es in deinem Leben Bereiche, wo du auf Geld verzichten könntest? Und was könnte entstehen, wenn du beginnst, dich mehr zu fragen, was du geben, statt was du kriegen kannst?