Wie ich in den letzten Jahren den Grossteil meiner Arbeitszeit verschenkt habe
Erfahrungen und Reflexionen aus acht Jahren Schenkökonomie.

Seit ich mich 2016 selbständig gemacht habe, habe ich einen Grossteil meiner Arbeitszeit verschenkt. Ich arbeite aber nicht gratis, sondern erhalte jeweils etwas zurück, in der Regel in Form eines Geldbetrags. Wo liegt da der Unterschied dazu, einfach meine Zeit zu verkaufen und eine Rechnung zu stellen? Nun, Rechnungen stelle ich natürlich auch. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch darin, dass ich das nicht mit einem fixen Stunden- oder Tagessatz tue, sondern der Betrag erst im Nachhinein gemeinsam festgelegt wird. Oder genauer gesagt: Wir reflektieren den entstandenen Wert meiner investierten Zeit gemeinsam und die andere Partei entscheidet dann auf dieser Grundlage, wie viel ich in Rechnung stellen darf. Ich nenne dies “Consulting in the Gift”, Beratung im Geschenk, oder: als Geschenk.
Das Prinzip ist einfach: Eine Dienstleistung erfolgt grundsätzlich als Geschenk und die beschenkte Partei entscheidet dann, ob und wie viel sie zurückgeben möchte. Das erste Mal von diesem Ansatz gehört habe ich im Jahre 2015. Ich habe in jenem Sommer das Buch “Reinventing Organizations” von Frederic Laloux gelesen und auf seiner Homepage gesehen, wie er dort das Buch mit dem Hinweis “Pay-what-feels-right” frei zum Download anbietet. Er schreibt dazu, dass er ja nicht wissen könne, wie viel sein Buch beim Leser auslösen wird und wie viel Wert es somit für diesen hat. Selber habe er schon Bücher gekauft, die ihm dann nicht viel bedeutet hätten und andere wiederum hätten sein Leben verändert. Weshalb sollen also beide Bücher gleich viel Kosten, wenn sie ganz unterschiedlichen Wert entwickelt haben? Das leuchtet mir ein. Laloux hat später davon berichtet, dass es Leute gab, die ihm 200 Dollar für sein Buch überwiesen hätten und dazu vermerkten, dass es immer noch zu wenig sei, so viel bedeute ihnen das Buch. Andere wiederum hätten lediglich 5 Dollar bezahlt, aber mit dem Hinweis, dass dies für sie ganz viel Geld wäre. Mich hat das sehr inspiriert und ich bin Frederic Laloux nicht nur unendlich dankbar für sein Buch, welches meinen beruflichen Weg sehr beeinflusst hat, sondern auch dafür, dass ich durch ihn Charles Eisenstein kennen lernen durfte. Denn Laloux hat diesen Pay-what-feels-right-Ansatz nicht selbst erfunden, sondern wurde angeregt durch das Buch “Sacred Economics” (in der deutschen Übersetzung: “Ökonomie der Verbundenheit”) von, eben: Charles Eisenstein.
Eisenstein transportiert mit seinem Buch ein uraltes Wissen, eine uralte Praktik, die nun wieder neu entdeckt wird. Denn wie bereits der Anthropologe Dave Graeber in seinem Werk “Schulden: Die ersten 5000 Jahre” beschrieben hatte, irren die Historiker, die erzählen, dass sich Geld direkt aus dem Tauschhandel entwickelt habe. Bestimmt hast du diese Erzählung auch schon gehört: Bevor es Geld gab, habe man Salz gegen Schafe getauscht, Safran gegen Kartoffeln oder eine Kuh gegen Fische. Eisenstein kommt wie Graeber zu einem anderen Schluss: Die Geschenkökonomie, nicht der Tauschhandel, ging der Marktwirtschaft voraus.
Erwähnt wurde der Begriff Geschenk- oder Schenkökonomie erstmals 1923 vom französischen Soziologen Marcel Mauss in seinem Buch “Die Gabe - Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften” (im Original: „Essai sur le don“). Was knapp 90 Jahre nach Mauss auch Graeber und Eisenstein festhielten: In tribalen, indigenen Gesellschaften gab es kein Geld und auch keinen Tauschhandel. Die Menschen haben sich vielmehr gegenseitig mit ihren unterschiedlichen Talenten unterstützt und getragen, das “Wirtschaftssystem” baute auf persönlichen Beziehungen und gegenseitiger Unterstützung. Dabei wurde nicht genau Buch geführt, wer wem wie viel an Zeit oder Gaben geschenkt hat, jedoch war in der tribalen Gemeinschaft für alle sichtbar, wer sich am gemeinschaftlichen Leben beteiligt und wer nicht. Diese Schenkökonomie hat funktioniert, weil Geschenkeerhalten dazu anregt, selber zu teilen. Eisenstein spricht wie folgt von der dabei zentralen Rolle der Dankbarkeit:
„Gratitude is the knowledge of having received and the consequent desire to give in turn. It is primal. All beings including human beings have an unquenchable desire to pour forth their gifts.“
Charles Eisenstein in seinem Essay “Living in the Gift”
Merke, dass “gift” im Englischen nicht nur für Geschenk, sondern auch für Talent steht (“to have a gift for something”). Diese urtümliche Form der Schenkökonomie baut also darauf, dass jede Person seine Talente frei mit der Welt teilt. Die Dankbarkeit, die bei den Beschenkten entsteht, führt schliesslich dazu, dass der Geschenk-Fluss weitergeht und alle das kriegen können, was sie zum Leben benötigen. Könnte das auch im 21. Jahrhundert noch ein Ansatz für eine funktionierende Gesellschaft sein? Klingt utopisch? Ich bin fest der Überzeugung, dass es uns guttun würde, unsere Beziehung zu Geld anders zu gestalten. Vielleicht könnten wir ja in ausgewählten Bereichen wieder vermehrt den Geist der Schenkökonomie stärken?
Wie ich begonnen habe, mit “Pay-what-feels-right” zu experimentieren
Angeregt von diesem “Pay-what-feels-right”-Ansatz habe ich irgendwann im Jahre 2015 begonnen, meine Musik als Geschenk anzubieten. Ich habe damals noch regelmässig als Singer-Songwriter musiziert und wenn ich angefragt wurde, ob ich in einer Bar, an einer Hochzeit oder sonst einem Fest spielen könnte, habe ich das fortan als Geschenk gemacht. Ich habe dies jeweils ungefähr wie folgt formuliert:
“Ich komme gerne vorbei und spiele ohne Gage für euch, mit anderen Worten: Ich schenke euch meinen Auftritt. Ich möchte dich aber bitten, dir am Tag nach meinem Konzert die Frage zu stellen, wie du den Abend gefunden hast, wie der Abend für dich gelaufen ist und welchen Anteil meine Musik daran hatte. Danach lade ich dich ein, mir so viel zurückzugeben, wie sich für dich stimmig anfühlt.”
Das hat gut funktioniert und vor allem auch der jeweils ein wenig undankbaren Energie bei den “Vertragsverhandlungen” bei Auftrittsanfragen den Boden genommen. Der Ansatz kam gut an und ich habe auch jedes Mal etwas zurückerhalten. Sehr oft war dies jedoch in Form eines Gutscheins. Da ich damals in Bern gewohnt habe und auch oft dort gespielt habe, hatte ich dann irgendwann auch genügend Gutscheine für den Gurten-Brunch erhalten. Mir wurde klar: Wenn ich mit diesem Modell nicht nur musizieren, sondern arbeiten, also meine Rechnungen bezahlen möchte, dann braucht es irgendwie noch eine Anpassung. Dadurch, dass ich das bewusst “Geschenk” genannt hatte, entstand wohl auf der Gegenseite eine Hemmung, mir einfach einen Geldbetrag zu geben. Es war dann vielleicht wie bei einem Geburtstags- oder Hochzeitsfest: Einfach nur Geld geben ist komisch, daher schenke ich einen Gutschein. Irgendetwas musste ich also noch ändern, wenn ich im Sinne der Schenkökonomie “Geld verdienen” wollte.
Als ich mich 2016 selbständig gemacht habe, war für mich klar, dass ich auch in meiner Arbeit als Organisationsberater mit diesem “Verrechnungsansatz” experimentieren möchte. Irgendwann früh im Jahre 2016 habe ich von einem Freund eine Anfrage erhalten, ob ich die Strategie-Retraite des Skiclubs begleiten könnte, in welchem er im Vorstand sitzt. Die Idee war, dass wir ein Wochenende in den Bergen verbringen, jeweils am Morgen und am Abend zwei Stunden arbeiten und dazwischen die Zeit auf der Skipiste verbringen. Das klang verlockend, jedoch gab es gemäss meinem Freund einen Hacken: Sie hätten nicht viel Budget und könnten mir kaum was bezahlen. Meine Unterkunft, Verpflegung und Skibillet würden sie aber auf jeden Fall übernehmen. Kein Problem, sagte ich, und erzählte meinem Freund davon, wie ich sowieso gerne alternative Verrechnungsansätze ausprobieren möchte. Ich schlug ihm also vor, dass ich ihnen meine Arbeitszeit schenke und sie danach bestimmen können, ob sie mir zusätzlich zu Kost, Logis und Skibillet noch etwas bezahlen möchten. Der Vorstand stimmte zu und somit hatte ich die erste Gelegenheit, “Pay-what-feels-right” in meiner Arbeit einzusetzen.
Das Wochenende in den Bergen verlief wunderbar und im Nachgang habe ich dem Vorstand ein paar Reflexionsfragen geschickt und sie gebeten, diese Fragen an der nächsten Vorstandssitzung gemeinsam zu besprechen und mir danach mitzuteilen, ob und wie viel sie mir allenfalls noch geben möchten. Die Antwort erhielt ich erst einige Wochen später und der damalige Präsident hat mir mitgeteilt, dass er meine Fragen allen per E-Mail geschickt und er danach den Mittelwert der ihm zurückgemeldeten Beträgen ausgerechnet hätte. Ich durfte für meine Arbeit an diesem Wochenende noch CHF 350.00 in Rechnung stellen.
Für mich war dies eine wichtige und auch einschneidende Erfahrung für meine spätere Arbeit in der Schenkökonomie. Denn ich hatte im Berghotel per Zufall die Schlussabrechnung der Bar gesehen, welche höher war wie der mir geschenkte Betrag. Ich hatte nun also diesen Vergleich im Kopf: Der Wert von Alkohol war für den Vorstand an diesem Wochenende höher als der Wert, den ich als Moderator der Workshops zum Strategie-Wochenende beigetragen habe. Das hinterliess bei mir kein gutes Gefühl und mir wurde bewusst, dass auch wenn ich meine Zeit gerne verschenkt hatte, ich dennoch eine gewisse Erwartung im Kopf hatte, was ich zurückerhalten möchte. Und andererseits hatte ich den Eindruck, dass die Reflexion über den entstandenen Wert rein per E-Mail nicht wirklich in einem guten Rahmen stattgefunden hat. Auf diese Weise fühlte es sich nicht stimmig an, meine Arbeitszeit als Geschenk anzubieten. Da hat irgendwie der Raum gefehlt, in welchem sich „the spirit of the gift“, wie Eisenstein es nennt, ausbreiten konnte.
Erst Jahre später habe ich dann von meinem Freund beim Skiclub erfahren, dass die Rechnung der Bar im Verein immer privat bezahlt wurde und meine Interpretation damals falsch war. Er hat mir als Antwort auf eine erste Version dieses Textes geschrieben, dass sie doch nicht so viel Budget für Alkohol hätten in einem Verein, der allen voran Kindern etwas bringen soll. Natürlich, wie konnte ich das nur denken! Das war mir jetzt noch unangenehmer als vorher. Diese Wendung in jener Geschichte unterstreicht für mich aber nur noch einmal, dass in dieser Art der Geldbeziehung der persönliche Austausch enorm wichtig ist. Wir alle sind sensibel wenn es um das Thema Geld geht und vermischen leider zu oft Wertschätzung mit einem Geldbetrag. Auch ich war und bin davor nicht gefeit.
Trotz dessen, dass ich die Situation damals ganz falsch interpretiert hatte, war dieses Erlebnis sehr wichtig für meinen weitern Weg in der Schenkökonomie. Bei der nächsten Gelegenheit habe ich nämlich darauf bestanden, dass wir uns nach “getaner Arbeit” wieder treffen und die Reflexion des gemeinsamen Wertes gemeinsam vornehmen. Dieser Prozess lief ganz anders ab und hat bei mir ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit und Dankbarkeit ausgelöst.
Wie ich heute mit “Consulting in the Gift” arbeite
Gemeinsam mit einer Kollegin habe ich Anfang 2016 eine Non-Profit-Organisation in einem Veränderungsprozess begleitet und die Menschen dort haben sich gerne auf das Experiment der Gift Economy eingelassen. Ich erinnere mich, wie wir nach der gemeinsamen Reflexion mit dem Gefühl das Bürogebäude verlassen haben, dass wir jetzt gerade ein wenig die Welt verändert haben - es war tief berührend und verbindend!
Der Ablauf, den ich heute verwende, um den entstandenen Wert gemeinsam zu reflektieren, ist seit da unverändert geblieben:
Begrüssung
Einstiegsrunde: In welcher Stimmung bist du heute da?
Rückblick auf gemeinsame Arbeit (z.B. was haben wir gemacht, was waren die wichtigsten Ergebnisse, wie viel Zeit habe ich investiert)
Start vom Gift-back Prozess: Noch einmal Prinzipien von Gift Economy und Ankerpunkte erwähnen
Reflexion allein, jede Person für sich (unterstützt von ausgewählten Reflexionsfragen)
Danach schreibt jede Person für sich auf einen Zettel, wie viel sie jetzt bezahlen würde (auch ich selber schreibe das auf)
Jede Person stellt ihren Betrag kurz vor und sagt, weshalb sie so viel geben/nehmen würde – ohne Diskussion
Danach kann jede Person ihren Betrag noch einmal anpassen aufgrund dessen, was sie von den anderen gehört hat
Jede Person sagt kurz, ob sie den Betrag geändert hat und warum
Ich übergebe euch die genannten Beträge und im Anschluss teilt ihr mir per E-Mail mit, wie viel ich in Rechnung stellen darf
Schlussrunde: Wie hast du diese Reflexion erlebt? Was möchtest du noch sagen?
Vielleicht erkennen einige der Leser, die sich mit neuen Organisationsformen auskennen, das hier verwendete Muster: Jede Person überlegt für sich alleine einen Vorschlag, alle Vorschläge werden in einer Runde angehört (eine Runde bedeutet, ohne zu diskutieren oder zu kommentieren), aufgrund des Gehörten kann jede Person ihren Vorschlag für sich noch einmal anpassen, in einer zweiten Runde wird geäussert, ob etwas geändert wurde und warum - auf diese Weise werden in soziokratischen Organisationen gemäss dem Basis-Prinzip der “Offenen Wahl” Rollen in einem Team verteilt. Ich habe diesen Prozess also nicht selbst erfunden, sondern mich hier von der Soziokratie inspirieren lassen (resp. damals habe ich noch vor allem mit Holacracy gearbeitet). Wichtig ist aus meiner Sicht vor allem, dass in einer Runde gesprochen wird und hier jede Person einen sicheren Ort erhält, um ihre Sichtweise und Überlegungen darzulegen, ohne dass sie unterbrochen wird. Dass diese Beiträge nicht diskutiert werden, sondern wiederum jede Person für sich allein entscheidet, ob sie aufgrund des Gehörten an ihrer Sichtweise etwas ändern möchte, stellt für mich ein weiterer wichtiger Schritt dar, um für die beteiligten Personen einen sicheren Raum zu schaffen. Gerade dadurch, dass man nur zuhören und nichts kommentieren muss, entsteht viel Tiefe und Verbindung.
In der Einstiegsrunde wird oft Nervosität geäussert bezüglich dem Thema Geld und dass sie nicht so gerne über Geld sprechen würden. In der Schlussrunde sind die Stimmen aber immer positiv, die Leute haben zum Beispiel gemerkt, dass es gar nicht so schwer war, oder schätzen es, dass anders als sonst über Geld gesprochen werden konnte. Ich erinnere mich, dass ich selbst ebenfalls sehr nervös war, als ich zum ersten Mal in so einer Runde meinen Geldbetrag nennen musste. Heute bin ich aber jeweils sehr entspannt, da ich mit der Erfahrung einfach weiss, dass der Prozess funktioniert. Ich denke, dass mein grosses Vertrauen in den Prozess wohl auch einen guten Ort schafft, in welchem die anderen Personen ihre Nervosität ablegen können.
Für die angeleitete Einzelreflexion (Punkt 5 im Reflexionsprozess oben) verwende ich ebenfalls immer noch dieselben Fragen, wie ich sie damals im Jahre 2016 für die Reflexion mit der Non-Profit-Organisation erstmals formuliert habe:
Wenn du an unsere gemeinsame Arbeit zurückdenkst, wie zufrieden bist du mit den Resultaten?
Wie schätzt du meinen Beitrag zu diesen Resultaten ein?
Wie zufrieden warst du mit dem Prozess?
Wie wäre der Prozess verlaufen, wenn ich nicht dabei gewesen wäre?
Welchen Wert hat es für dich, dass ich euch in diesem Prozess begleitet habe?
Was fühlst du in dir, welchen Wert meine Arbeit für euch entwickelt hat?
Ich habe jede dieser Fragen mit einem Filzstift auf ein A4-Blatt geschrieben, lege diese jeweils nacheinander in die Mitte und lade dazu ein, dass sich jede Person in Stille Gedanken dazu macht. Dass die Fragen von Hand geschrieben sind, soll die persönliche Note bewusst unterstreichen und zu Beginn war es mir auch wichtig, dass wir uns für diese Reflexion immer nochmal persönlich treffen. Dafür habe ich oftmals auch je eine Stunde An- und Rückreise in Kauf genommen, weil mir dieser gemeinsame Reflexionsmoment so wichtig war. Seit der Corona-Pandemie mache ich dies nun aber oft online und ich habe festgestellt, dass es in einer gemeinsamen Video-Konferenz auch ganz gut funktioniert. Die Reflexionsfragen teile ich dann eine nach der anderen im Chat, halte aber gleichzeitig jeweils auch noch meine A4-Blätter mit den Fragen in die Kamera. Die ganze “Abrechnungsrunde” dauert so etwa eine Stunde und eigentlich kommt es mir entgegen, dass ich die Reisezeit dafür nun oft einsparen kann. Wenn möglich, lade ich aber immer noch gerne zur gemeinsamen Reflexion vor Ort ein.
Wenn ich eine Anfrage für ein neues Beratungsmandat oder für die Moderation eines Teamworkshops erhalte, schlage ich immer vor, dass wir dieses Verrechnungsmodell verwenden könnten. Ich habe einen One-Pager erstellt, der das Modell beschreibt und oft ist dies auch alles, was ich als “Offerte” versende. Dort findet sich auch ein Range von in der Schweiz üblichen Tagessätzen, an denen wir uns in der Reflexion orientieren können. Mir ist aber jeweils wichtig nochmal zu betonen, dass wir frei sind, in jegliche Himmelsrichtung von diesem Range abzuweichen. Diesen Range zu ergänzen, war die einzige Änderung, die ich seit der allerersten Runde mit der Non-Profit-Organisation am Prozess vorgenommen habe. Die Personen haben nämlich damals zurückgemeldet, dass sie gar nicht wissen, wie viel so etwas üblicherweise kostet und dass ihnen dies als Orientierung wichtig sei.
Wenn ich meinen Ansatz von “Consulting in the Gift” vorstelle, erhalte ich natürlich manchmal auch Antworten im Sinne von “Das ist lustig, geht aber bei uns nicht”. Die meisten Personen sind aber sehr interessiert und lassen sich gerne darauf ein. Ich wurde auch bereits einige Male überrascht, wer sich alles darauf einlässt. So habe ich zum Beispiel auch schon mit Banken oder Verwaltungseinheiten auf diese Weise zusammengearbeitet. Gleichwohl bin ich aber auch immer noch in einigen Mandaten engagiert, die “klassisch” verrechnet werden und störe mich auch nicht daran. Mir ist es wichtig zu sagen, wie ich am liebsten arbeite, bin mir aber auch bewusst, dass dies nicht für alle passend ist und sträube mich nicht gegen einen traditionellen Ansatz mit im Voraus festgelegtem Stunden- oder Tagessatz. Grundsätzlich habe ich jedoch den Eindruck, dass die “Stundensätze” eher etwas höher liegen, wenn wir klassisch verrechnen. Wer sich auf die Gift Economy einlässt, kommt also günstiger weg - oder eben in anderen Worten: Kriegt tatsächlich etwas geschenkt. Das bedeutet, dass ich wahrscheinlich auch mehr Geld verdienen könnte ohne dieses “Pay-what-feels-right”, aber darum geht es mir nicht.
Meine Motivation für diese Art der “Verrechnung” ist ähnlich wie bei Frederic Laloux und seinem Buch: Es fühlt sich für mich komisch an, im Voraus einen fixen Preis zu nennen. Denn woher soll ich wissen, wie viel Wert meine investierte Zeit schlussendlich entfalten wird? Ich arbeite in ganz unterschiedlichen Organisationen (KMUs, Verwaltung, Sozialunternehmen, Non-profit-Organisationen, Vereine), welche mit ganz unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten unterwegs sind. Ich stelle mir vor, dass meine Arbeit im Verhältnis zu den sonstigen Auslagen und Einnahmen in einem erfolgreichen IT-Unternehmen unmöglich den gleichen Preis haben kann, wie in einer spendenbasierten Non-profit-Organisation, die schauen muss, wie sie über die Runden kommt.
Dazu kommt, dass ich “Vertragsverhandlungen” immer ein wenig schwierig finde und ich diese auf die Beziehung bezogen meist eher trennend statt verbindend erlebe. Hier auf meinem Blog habe ich bereits mehrmals darüber geschrieben, wie ich die Rolle des Geldes und unseres Wirtschaftssystems kritisch sehe für eine gesunde Zukunft unserer Gesellschaft. Daher ist es meine Motivation, für mich einen Weg zu finden, wie ich in meiner Arbeit anders mit dem Thema Geld umgehen kann und wie die Festlegung des passenden Preises ein verbindender Moment werden könnte. Denn ich bin überzeugt: Durch einen anderen Umgang mit dem Thema Geld, können wir auch andere Arten von (Wirtschafts-)Beziehungen leben. So habe ich denn auch schon sehr viele schöne Momente erlebt in den gemeinsamen Reflexionsrunden und denke, dass hier nochmal eine ganz andere Qualität an Feedback reinkommt als in einem klassischen “Debriefing”. Dabei ist mir wichtig, dass ich selber auch sagen kann, wenn ich mit meiner Arbeit nicht zufrieden war. Zuweilen hat das auf der Kundenseite auch schon zu Erstaunen geführt, weil sie es nicht gewohnt waren, dass sich ein Berater auch selbstkritisch oder gar verletzlich zeigt.
In der Regel sind wir bei einer solchen Reflexionsrunde zu dritt, also zwei Vertreterinnen vom Klientensystem und ich. Manchmal sind vom Klientensystem auch mehr Personen dabei, was für mich auch stimmig ist. Lediglich einen 1:1-Austausch suche ich nicht, denn dann hat die Runde meiner Erfahrung nach weniger Qualität. Wichtig zu erwähnen ist noch, dass mir sehr wichtig ist, dass jede Person nach der Einzelreflexion ihren Betrag aufschreibt. Denn gerade wenn jemand einen Wert gespürt hat, der stark von den anderen abweicht, möchte ich diesen unbedingt hören. Das Aufschreiben des Betrags soll also verhindern, dass plötzlich jemand seinen Betrag spontan ändert, nachdem er oder sie während der Runde merkt, dass die anderen viel tiefere oder viel höhere Beträge aufgeschrieben haben. In anderen Worten: Sozial erwünschte Antworten sollen damit eingeschränkt werden.
Analyse meiner ersten acht Jahre in der Schenkökonomie
Wie hat sich diese Arbeit “in the Gift” nun für mich bewährt? Welche Schlüsse ziehe ich daraus und wie gross ist eigentlich überhaupt der Anteil der auf diese Weise verrechneten Arbeit im Verhältnis zu meinem Gesamtumsatz? Das habe ich nun für diesen Artikel erstmals ausgewertet und habe mir alle “Abrechnungsrunden” (ich nenne diese in der Regel “Gift-back”) von 2016 bis 2023 nochmal angeschaut. Entstanden ist dabei eine kleine deskriptive Statistik und dies sind die wesentlichen Erkenntnisse daraus:
Zwischen 2016 und 2023 habe ich insgesamt 111 Rechnungen stellen dürfen, in denen wir “in the Gift”, also in Schenkökonomie gearbeitet haben. 68 Rechnungen ging der vollständige Reflexionsprozess voraus, wie ich ihn oben beschrieben habe. In 37 Fällen durfte ich spätere Rechnungen automatisch mit dem Wert verrechnen, der bei den bisherigen gemeinsamen Reflexionen entstanden ist und in 6 Fällen wurde der Prozess gekürzt durchgeführt.
Insgesamt habe ich auf diese Weise zwischen 2016 und 2023 mehr als die Hälfte meines Umsatzes (55.45 %) als Geschenk erhalten.
Im ersten Jahr meiner Selbständigkeit (2016) waren es rund 12 % des Umsatzes, den höchsten Umsatzanteil “in the Gift” habe ich im 2020 mit 75.11 % erzielt.
Der grösste, mir durch eine “Gift-back-Runde” geschenkte Betrag lag bei
CHF 16’000.00, der kleinste bei CHF 420.00.Der Betrag, den ich schlussendlich in Rechnung stellen durfte, war in 90 % der Fälle höher als derjenige Betrag, den ich in der zweiten Runde selbst genannt hatte. In 10 % der Fälle wurde der Betrag übernommen, den ich genannt hatte.
In 42 % der Fälle lag der Mittelwert aller genannten Beträge (inkl. dem von mir) in der zweiten Runde höher als in der ersten Runde, in 39 % der Fälle tiefer und in
19 % der Gift-back-Runden hat sich der Mittelwert zwischen Runde 1 und Runde 2 nicht verändert.Die Spannweite aller genannten Beträge hat sich von Runde 1 zu Runde 2 im Schnitt um 54 % reduziert. In 9 Fällen hat sich die Spannweite nicht verändert, in 4 Fällen haben in der zweiten Runde alle Personen denselben Betrag genannt.
In 86 % der Fälle lag der von mir in der ersten Runde genannte Betrag tiefer als der Mittelwert der von der Klientenseite genannten Beträge. In 8 Fällen (13 %) habe ich in der ersten Runde den höheren Wert genannt.
In 63 % der Fälle habe ich in der zweiten Runde meinen Betrag erhöht, in 11 % der Fälle reduziert und in 27 % der Fälle habe ich meinen Betrag zwischen Runde 1 und Runde 2 nicht verändert.
Die Personen des Klientensystems haben in 45 % der Fälle ihren Betrag in der zweiten Runde reduziert, in 27 % der Fälle erhöht und in 28 % nicht verändert.
Ich denke, es ist hilfreich, wenn ich diese Zahlen noch ein wenig kommentiere. Mein Eindruck, dass ich unterdessen in der Mehrheit meiner Projekte “in the Gift” arbeiten kann, wurde durch die Analyse bestätigt. Interessant war für mich hierbei, dass ich im Jahre 2020 den höchsten Umsatzanteil (rund Dreiviertel) auf diese Weise erhalten habe. Wir erinnern uns: Im Frühjahr 2020 wurde der erste Corona-Lockdown verkündet und wie so viele, war auch ich damals zunächst verunsichert, wie sich das auf mein Geschäft auswirken würde. Ich habe im 2020 schliesslich weniger Umsatz gemacht als in den Jahren davor und danach, aber die Einbussen waren nicht so schlimm, wie ich das zunächst befürchtet hatte. Weshalb lag nun aber der Gift-Anteil gerade in diesem Jahr mit Abstand am höchsten? Eine mögliche Interpretation könnte sein, dass auch ich von der Solidaritäts-Welle profitieren konnte, von der gerade in dieser ersten Phase der Pandemie viel gesprochen wurde. Weiter könnte es aber auch sein, dass in den Mandaten, in denen ich meine Zeit verschenkt habe, die stärkere Verbindung bestand und dies schlussendlich diejenigen Projekte waren, die weitergeführt wurden, während andere gestoppt wurden. Da ich insgesamt ja nicht mehr Geld erhalten habe im 2020, macht für mich die zweite These mehr Sinn. Denn dies ist ja auch einer meiner Beweggründe, meine Arbeit auf diese Art und Weise anzubieten: Ich wünsche mir andere Formen von Geschäftsbeziehungen. Gleichzeitig habe ich jedoch ab 2022 ein paar neue Mandate erhalten, in denen eine Zusammenarbeit in Schenkökonomie nicht gewünscht war (z.B. in der Verwaltung). Das heisst, die Abweichung im 2020 könnte auch einfach rein zufällig gewesen sein.
Interessant finde ich, dass mir nie ein Rechnungsbetrag geschenkt wurde, der tiefer lag als der von mir vorgeschlagene Betrag. Da die Gegenseite mir gegenüber ja wahrscheinlich auch nicht schlecht dastehen möchte, kann ich das nachvollziehen. Dass ich in 90 % der Fälle jedoch mehr verrechnen durfte, als ich selbst in der zweiten Runde genannt hatte - also mehr, als ich mir selbst gegeben hätte - ist doch ein wenig erstaunlich. Dazu passt, dass ich in den allermeisten Fällen tiefere Beträge nenne als die Gegenseite. Das heisst einerseits, ich würde mich eigentlich auch mit weniger zufrieden geben, und andererseits, dass das Klientensystem gerne etwas zurückgibt, ja sogar gerne noch etwas mehr. Die Befürchtung, dass ich irgendwann gar nichts zurückerhalten würde, hat sich also überhaupt nicht eingestellt. Ich selber befürchte das eigentlich auch gar nicht, oftmals wird mir diese Befürchtung jedoch geäussert, wenn ich von meinem “Consulting in the Gift” erzähle.
In einem der ersten Projekte, in welchem ich 2016 meine Zeit und meine Arbeit verschenkt habe, wurde ich hinsichtlich der Befürchtung, nichts zurückzuerhalten, aber durchaus auch getestet. Denn hier gab es nach Beendigung der vereinbarten Termine plötzlich einen Kontaktabbruch. Ich konnte meinen Auftraggeber monatelang nicht mehr erreichen und somit auch die gemeinsame Reflexion nicht wie besprochen durchführen. Für mich war klar, dass ich ohne eine entsprechende Abmachung nun nicht einfach mit einem von mir definierten Stundensatz eine Rechnung stellen darf und so habe ich schlussendlich dieses Geschenk für mich abgeschrieben, oder besser formuliert: Als wirkliches Geschenk verbucht. Nach rund einem Jahr habe ich die zuständige Person dann aber per Zufall in Bern wieder getroffen und er hat mir erzählt, was für ein intensives Jahr er persönlich gerade durchgemacht hätte - und dass er mir unbedingt noch etwas für meine Arbeit geben möchte. Wir haben uns also wieder verabredet, die Reflexion gemeinsam durchgeführt und schlussendlich habe ich hier ein Jahr später noch ein Gegengeschenk erhalten.
So früh auf meiner Reise in die Schenkökonomie war dies ein wichtiges Erlebnis für mich, weil ich mich damit auseinandersetzen musste, ob das für mich jetzt wirklich ok wäre, wenn tatsächlich nichts mehr zurückkommt. Diese Episode lässt sich also auch als Test lesen, ob ich es wirklich ernst meine mit diesem Ansatz. Ich denke, den Test hätte ich bestanden, auch wenn sich unsere Wege hier schlussendlich doch wieder gekreuzt haben. Ähnlich wie beim oben geschilderten Missverständnis mit dem Skiclub kam ich auch hier zum Schluss, dass ich einfach nicht mehr mit einer Partei zusammenarbeiten würde, falls ich das Gefühl hätte, dass mein Schenkökonomie-Ansatz nicht verstanden oder sogar ausgenutzt wird. Effektiv eingetreten ist dieser Fall bisher nie. Dennoch haben mir diese zwei Fälle geholfen, mich damit auseinander zu setzen, ob ich wirklich bereit bin, meine Zeit zu verschenken oder nicht. Und ich denke, es ist auch kein Zufall, dass sich beide Geschichten im Jahr 2016 ereignet haben. Also in dem Jahr, als ich gerade erst begonnen hatte, mit “Consulting in the Gift” zu arbeiten.
Das Bedürfnis nach Ausgleich
Was ich bei der Zusammenarbeit in den jeweiligen Projekten sehr stark spüre, und für mich nun auch in der Statistik erkennbar wird: Die Gegenseite möchte mir unbedingt etwas zurückgeben. Ich habe in vielen Situationen gespürt, dass es sehr schwierig für sie wäre, mir nichts zurückzugeben. Hierbei könnten natürlich soziale Normen eine Rolle spielen, ich glaube jedoch, dass es vielmehr mit der Wirkung der Dankbarkeit zu tun hat, wie sie Charles Eisenstein beschreibt. Wenn man beschenkt wird, entsteht das Bedürfnis, selber auch etwas zu geben. Grosszügigkeit ist also ansteckend. Damit verbunden ist meiner Meinung nach ebenfalls ein starkes Bedürfnis nach Ausgleich, das ich in den verschiedenen Beratungs-Projekten immer wieder gespürt habe. Ich denke, dass es sich dabei durchaus um eine Art “universelles Gesetz” handeln könnte, wie es zum Beispiel Bernd Hellinger in seiner langjährigen Praxis der Aufstellungsarbeit in den repräsentierten Systemen ebenfalls immer wieder beobachtet hat. Er hat das “Bedürfnis nach Ausglich” als eines von vier grundlegenden Ordnungs-Prinzipien in (Familien)Systemen beschrieben und sagt, dass dies sowohl im Positiven als auch im Negativen wirken würde.
Dieses Bedürfnis nach Ausgleich durfte ich auch selber bereits spüren, nämlich als ich plötzlich für einmal der Beschenkte war. In bisher zwei Projekten habe ich ein Geschenk in Form einer Vorauszahlung erhalten, mit der Idee, dass ich dann dafür später wieder etwas zurückgeben könnte. In beiden Fällen konnte ich hier aber nicht den Umfang zurückgeben, der aus meiner Sicht der Grösse des Geschenks (sprich der Vorauszahlung) entsprochen hätte. Für mich war es schwierig, das auszuhalten und ich habe gespürt, wie auch ich diese “Schuld“ unbedingt begleichen wollte. Wahrscheinlich hatte ich hier aber viel mehr Stress als die Gegenseite, denn bis heute konnte ich trotz mehrmaligem Nachfragen nichts mehr für diese beiden Organisationen tun. Daher blieb mir nur noch übrig, diese Zahlungen tatsächlich als Geschenk anzunehmen.
Diese beiden Fälle haben mir aufgezeigt, wie es ist, auf der anderen Seite des Geschenks zu stehen. Für mich war das eine wichtige und lehrreiche Erfahrung, denn mir war vorher nicht bewusst, wie schwer es mir fallen würde, diese Geschenke einfach anzunehmen. Mit einem erhaltenen Geschenk entsteht also nicht nur Dankbarkeit - und damit Grosszügigkeit - sondern auch eine Art Obligation, eine Verpflichtung, oder: Eine Schuld. Aber ist das überhaupt im Sinne der Schenkökonomie, hier eine Schuld zu spüren? Oder hat das vielmehr mit mir selbst zu tun resp. zeigt mir auf, woran ich persönlich noch arbeiten kann? Auf einen wichtigen Punkt in der Funktionsweise einer Schenkökonomie weisst dieser Aspekt auf jeden Fall hin: Eigentlich ist es ja nicht wirklich Teil einer Kultur des Schenkens, dass man auch ein Gegengeschenk erwartet. Dies ist denn auch eine Kritik, die man an meinem Ansatz äussern könnte und eine Frage, die mich selbst auch beschäftigt: Ist das wirklich Schenkökonomie, wenn ich die Gegenseite frage, wie viel sie mir zurückgeben möchten - und dabei sogar noch selber einen Betrag nenne, den ich passend fände? Denn es wäre komisch, wenn ich bei jedem Geburtstagsgeschenk, das ich einer anderen Person mache, automatisch ein Gegenschenk zu meinem Geburtstag erwarten würde. Eine Schenkökonomie, so wie sie von diversen Autoren beschrieben und diskutiert wird (eine Übersicht über die Vielzahl an Publikationen findet sich z.B. hier), funktioniert denn auch nicht nach dem Prinzip, dass das Schenken reziprok erfolgen soll, sondern es ist vielmehr die Rede davon, dass die Geschenke zirkulieren und in einem lebendigen Fluss sind. Oft wird in diesem Zusammenhang auch von “pay it forward” gesprochen, also dass man das, was man selber erhalten hat, wieder weitergeben kann. Geben und Erhalten soll also auf natürliche Weise in Einklang kommen und Geschenke fliessen in einer Gruppe immer dorthin, wo die Bedürfnisse sind.
“Pay it forward” als mögliche Erweiterung
Ich denke, dies ist ein wichtiger Aspekt der Schenkökonomie, denn mit dieser Sichtweise fällt es leichter, Geschenke auch wirklich anzunehmen. So gesehen sind diejenigen Fälle, wo das Schenken in meiner Praxis gefühlt nicht in einer gegenseitigen Balance lag, vielleicht vielmehr durch diese “pay it forward”-Brille zu verstehen. Ich habe in Vergangenheit auch schon viel Zeit verschenkt und - durch eine traditionelle Brille betrachtet - Stundensätze akzeptiert, für die einige meiner Kollegen niemals arbeiten würden. Vielleicht war es also auch Teil eines grösseren Schenkkreises, dass ich jetzt auch mal Geschenke erhalten habe resp. dass eben nicht immer alle Geschenke direkt an die Gegenseite zurückfliessen müssen?
Wenn ein Geschenk also Dankbarkeit erzeugt und den Wunsch auslöst, auch etwas zu geben, kann dies sowohl zurück zu mir als auch zu jemand anderem sein. Um in der Schenkökonomie, wie ich sie aktuell praktiziere, die Obligation aufzuheben, dass man mir etwas zurückschenken muss und gleichzeitig mein Bedürfnis zu befriedigen, dass ich für meine Arbeit Geld erhalten kann, könnte ein möglicher Ausweg darin liegen, dass der Geldbetrag, den mir eine Klientin zurückschenkt, nicht eigentlich für mich bestimmt ist, sondern für die nächste Person oder Organisation, mit der ich arbeiten werde. Das bedeutet, wenn ein Klient mit meiner Arbeit zufrieden war, kann er jemand anderem das Geschenk machen, ebenfalls mit mir zu arbeiten und ermöglicht dies mit einem Geldbetrag an mich. Denn diese Zahlung erlaubt es mir, weiterhin meine Arbeit auszuführen und anzubieten.
Diese Umdeutung des Geldflusses ist vielleicht aber auch ein wenig weit hergeholt. Dennoch finden sich Beispiele, in denen die Schenkökonomie auf diese Weise gelebt wird (z.B. die Restaurantkette Karma Kitchen). Selber habe ich auch schon mit diesem “pay it forward”-Ansatz experimentiert, als ich vor einigen Jahren eine Zeitlang mit einer Gruppe von Menschen regelmässige Anlässe organisiert habe. Mit folgendem Narrativ haben wir hier jeweils zum Schenken eingeladen:
“Eure Teilnahme heute wurde euch geschenkt von den Teilnehmenden des letzten Anlasses. Wenn dieser Ort für euch wertvoll ist und ihr möchtet, dass wir diese Anlässe weiterführen, dann könnt ihr dies ermöglichen, indem ihr den nächsten Teilnehmenden die Teilnahme schenkt.”
Grundsätzlich hat das funktioniert und aus dem entstandenen Topf haben wir jeweils die Kosten des nächsten Anlasses bezahlen können, primär waren dies die Mietkosten für den Raum. In meiner Arbeit als Organisationsberater wäre also möglicherweise eine weitere Stufe im “Consulting in the Gift”, dass ich das Narrativ dahingehend anpasse, dass sie nicht mir ein Geschenk machen, sondern den Menschen, mit denen ich nach ihnen zusammenarbeiten werde. Bisher hatte ich aber noch keinen Impuls das wirklich umzusetzen, da mein bisheriges Vorgehen gut funktioniert und sich für alle Beteiligten stimmig anfühlt.
Übrigens ist es auch bereits drei Mal vorgekommen, dass mir ein Klientensystem einen Betrag bezahlen wollte, den ich massiv überhöht fand - jeweils ohne gemeinsame Reflexion versteht sich. In allen Fällen habe ich dann den Preis nach unten korrigiert, weil für mich ein so hoher Preis nicht stimmig gewesen wäre. Jetzt könnte man natürlich sagen „Der spinnt ja, der hätte doch einfach das Geld nehmen sollen“, für mich ist aber vielmehr interessant, weshalb diese Organisationen so viel bezahlen wollten. In allen drei Fällen ging die Zusammenarbeit nämlich nicht mehr weiter. Meine Hypothese ist daher: Sie wollten sich von mir „freikaufen“ und unbewusst mehr bezahlen, damit sie kein schlechtes Gewissen haben müssen, wenn sie die Zusammenarbeit mit mir beenden. Das kann ich ihnen aber nicht abnehmen, erst recht nicht durch so eine Art Ablasshandel. Wenn sie nicht mehr mit mir arbeiten wollen, ist das für mich kein Problem - und wenn sie das nicht aussprechen können, finde ich das schade, aber das ist ebenfalls kein Problem. Wenn ich Geld annehme für etwas, wo ich kein gutes Gefühl habe, dann habe ich jedoch ein Problem. Und dieses Geschenk könnte ich dann wohl auch nicht mit gutem Gefühl wieder weitergeben. Der Geschenkfluss könnte durch die negativen Gefühle ins Stocken kommen.
Kritische Fragen zu meinem Ansatz
Was mir oft begegnet - und ich mich auch selbst schon gefragt habe: Will ich mit diesem Ansatz umgehen, mir einen Wert zu geben resp. der Gegenseite zu sagen, wie viel ich Wert bin? Es gibt eine Vielzahl von Seminaren für selbständige Coaches und Berater mit Titeln wie “Kenne deinen Wert!”, in welchem angeblich gelernt werden kann, wie man einen anständigen Preis für seine Arbeit findet und kommuniziert. Mir liegt es fern, an solch einem Seminar teilzunehmen und ich glaube, ich kenne meinen Wert sehr gut. Gerade aus dem Aspekt heraus, dass ich im Grossteil der Fälle in den gemeinsamen Gift-back-Runden selber den tiefsten Betrag nenne, habe ich mich jedoch sehr bewusst mit möglichen unbewussten Motiven hinter meinem Schenkökonomie-Ansatz auseinandergesetzt. Charles Eisenstein hat auf seiner Homepage im Jahre 2014 einen Essay veröffentlicht, in dem er mögliche Schattenmotive in der Gift Economy diskutiert. Dort nennt er etwa den Wunsch, den komplizierten und unangenehmen Fragen rund um das Thema Geld aus dem Weg zu gehen, als mögliches Schattenmotiv für ein Engagement in der Schenkökonomie. Ich denke jedoch nicht, dass dies mein Beweggrund ist, da ich in den letzten Jahren viel an meiner Beziehung zum Thema Geld gearbeitet habe (vgl. meinen Text über die Geldarbeit von Peter König). Ich glaube, für mich ist die Arbeit mit “Consulting in the Gift” keine Flucht aus dem Geldsystem, sondern vielmehr ein Versuch, bewusst neue Muster im Geldsystem zu etablieren.
Oft spreche ich in meiner Arbeit daher auch von “Energieausgleich”, statt von “Verrechnung” oder “Kosten”. Der Gedanke dahinter: Ich gebe etwas und wenn mir das sehr leichtfiel, brauche ich weniger Ausgleich. Wenn es jedoch sehr herausfordernd war und ich z.B. viel emotionale Energie aufwenden musste, dann ist mein Bedürfnis nach Ausgleich vielleicht grösser. Der Energieausgleich könnte auch in anderer Form stattfinden, denn hinsichtlich “Consulting in the Gift” kann das Gift, das Geschenk, ja verschiedene Formen annehmen. Spass bei der Arbeit zum Beispiel könnte dazu gehören und folglich bräuchte ich auf einem anderen Kanal (z.B. Geld) weniger, wenn ich hier schon viel erhalten habe. Ist das eine legitime Sicht auf die Arbeit eines Organisationsberaters oder greift das zu kurz? Ich kenne viele Beratungspersonen, die der Ansicht sind, dass man als Berater seine Zeit investiert und die immer gleich viel wert ist. Also eine Art „inneren Wert“ hat, der sich auch nicht in Abhängigkeit vom Resultat oder vom erzielten Wert verändert. Entsprechend habe ich mir überlegt, ob meine Zeit jetzt mehr inneren Wert hat, wenn ich zwei Kinder habe und die Zeit, die ich arbeite, nicht mit den Kindern verbringen kann. Natürlich ist es nicht so, dass meine Kunden mich meinen Kindern wegnehmen, aber trotzdem habe ich insgesamt als Vater jetzt weniger Zeit zur Verfügung und dadurch wird die Zeit, die ich mit Kunden verbringen kann, grundsätzlich kostbarer. Wenn ich die Entwicklung meiner Umsätze anschaue, dann glaube ich, dass ich das unbewusst bereits in die Gift-back-Runden eingebracht habe. Denn ich habe mich bewusst dagegen entschieden, den angegebenen Range als Anker für die Reflexion zu verändern, dennoch erhalte ich höhere “Stundensätze” geschenkt, seit ich mir diese Gedanken gemacht habe. Das scheint zu bestätigen, was an vielen Stellen über Gift Economy geschrieben wird: Das Geschenk kommt immer in passender Form und zum richtigen Zeitpunkt wieder zurück.
Damit dieser Geschenk-Fluss auf diese natürliche Art und Weise zirkulieren kann, ist es aus meiner Sicht entscheidend, in welcher Haltung und mit welcher Art von Aufmerksamkeit ich in die Schenkökonomie eintrete. Leider habe ich schon mehrmals negative Erfahrungen gemacht mit “Pay-what-feels-right”-Anlässen, also Events, wo der Eintrittspreis frei bestimmt werden konnte. Dabei habe ich es oftmals so erlebt, dass es dann eben doch eine konkrete Erwartung gab, was stimmig wäre - auch wenn die Personen gerne sagen „zahlt so viel, wie für euch stimmig ist“. Das hat mitunter auch schon zu offener Enttäuschung bei den Organisatoren oder Frustration bei den Teilnehmenden geführt. Das unterstreicht für mich die Bedeutung dessen, dass man sich wirklich damit auseinandersetzt, ob es auch ok wäre, wenn kein unmittelbares Geschenk zurückfliessen würde. Und stärkt mich in der Überzeugung, dass Arbeit in der Schenkökonomie nur funktionieren kann, nur in den Fluss kommen kann, wenn das Schenken auch wirklich ernst gemeint ist. Dass ich diese negativen Erfahrungen alle im Umfeld der “Reinventing Organizations”-Szene gemacht habe, ist für mich nicht überraschend. Ich habe den Eindruck, dass es hier oftmals auch einfach darum ging, dass man mit “Pay-what-feels-right” innovativ sein oder einfach gut dastehen wollte - schliesslich bietet ja auch Frederic Laloux, der Autor von Reinventing Organizations, sein Buch als “pay-what-feels-right” an. Charles Eisenstein beschreibt diesen Stolperstein sehr treffend:
„Don‘t do it in order to be good. Do it in order to feel good.“
Aus “Sacred Economics” von Charles Eisenstein, S. 405
Für mich ist dieses Zitat sehr stimmig, weil ich bei meinen ersten Schritten in der Schenkökonomie gemerkt habe, dass ich mich mit einer unpersönlichen E-Mail-Runde nicht gut fühlen kann dabei. Ich habe realisiert, dass ich selber auch gerne sagen möchte, was sich für mich stimmig anfühlt und dass ich möchte, dass dies gehört und in die Reflexion der Teilnehmenden einbezogen wird. Daher habe ich den Prozess mit der gemeinsamen Reflexion entwickelt und fordere diese auch als einzige Bedingung ein. Denn ich finde es nicht fair, wenn man sagt “bezahle einfach so viel, wie sich für dich stimmig anfühlt” und dann aber enttäuscht ist, wenn das nicht den eigenen Erwartungen entspricht. Oder wenn man nicht verstehen kann, weshalb die Beträge tiefer als erwartet ausfallen und dann vielleicht sogar noch den Rückschluss zieht, dass man nicht wertgeschätzt wurde - was mir selbst ja eben auch schon passiert ist. Daher ist es für mich stimmiger, wenn sich im Prozess alle äussern können und meine Erfahrung ist die, dass alle Beteiligten sehr interessiert sind an der Sichtweise der Anderen. Auch meine Statistik zeigt, dass sich die Beträge in der zweiten Runde immer markant annähern. Und durch das Anhören der anderen Perspektiven war es für mich jeweils auch einfacher damit umzugehen, wenn ich nicht so viel zurückerhalten habe, wie ich mir vielleicht vorgestellt hätte. Das Zauberwort für Verbindung bedeutet auch hier: Empathie.
Einen Kritikpunkt, den ich weiter oben bereits aufgeführt habe, möchte ich hier nochmal aufgreifen: Ist es wirklich ein "Schenken”, wenn ich mit der gemeinsamen “Abrechnungsrunde” nach einem Gegengeschenk frage? Eine mögliche Antwort dazu finden wir ebenfalls bei Charles Eisenstein, der zwei einfache Prinzipien für die Arbeit in der Schenkökonomie nennt:
Der Empfänger und nicht der Schenkende bestimmt den "Preis" (das Gegengeschenk).
Das Gegengeschenk wird nach Erhalt des ursprünglichen Geschenks ausgewählt, nicht vorher.
Diese Prinzipien erfülle ich mit meinem Ansatz beide und dazu passt vielleicht, dass sich bisher noch nie eine Person, mit der ich in “Consulting in the Gift” zusammengearbeitet habe, kritisch geäussert hätte hinsichtlich des Gegengeschenks. Diese Frage, ob man überhaupt von “Schenken” sprechen kann, wenn nach einem Gegengeschenk gefragt wird, gibt es also vielleicht lediglich in meinem Kopf oder: in der Theorie. Ein zentrales Element in meinem Prozess ist auf jeden Fall, dass nicht am Schluss einfach der Mittelwert der zweiten Runde verrechnet wird oder automatisch der von mir oder von der Gegenseite genannte Betrag, sondern dass die genannten Beträge erstmal so stehen bleiben können und die Klienten sich dann später entscheiden können, wie viel sie zurückgeben möchten. Ich schliesse daher die “Gift-back-Runde” immer mit einer Zusammenfassung, die beispielsweise wie folgt klingen könnte:
“Ok, somit hatten wir jetzt in der zweiten Runde einmal 3’200 Franken, einmal 3’300 Franken und einmal 3’500 Franken. Nehmt doch bitte diese drei Beträge mit, besprecht das noch einmal in Ruhe miteinander oder mit den Stellen, die hier noch involviert werden müssen und schreibt mir danach in den nächsten Tagen eine E-Mail, welchen Betrag ich in Rechnung stellen darf.”
Der Empfänger bestimmt das Gegengeschenk, und zwar nach Erhalt des ursprünglichen Geschenks. Eigentlich ganz einfach, nicht?
Ausblick auf den zweiten Teil
Dass wir meiner Meinung nach in unserer Gesellschaft einen anderen Umgang mit dem Thema Geld finden müssen, ist hier auf meinem Blog schon verschiedentlich aufgetaucht. Zum Beispiel habe ich vor kurzem darüber geschrieben, wie immer mehr von dem, was einmal frei verfügbar war, in das Wirtschaftssystem integriert und ökonomisiert wird (z.B. Kinderbetreuung oder Naturerlebnisse).
Welche Folgen dies auf unsere Gemeinschaft hat und wie eine “Ökonomie der Verbundenheit” wieder vermehrt mit Elementen einer Schenkökonomie funktionieren könnte, möchte ich in einem zweiten Text weiter vertiefen. Gerne möchte ich auch noch weitere Ansätze diskutieren, wie eine Gift Economy gelebt werden könnte - ich bin ja bei weitem nicht der Einzige, der sich in dieser Praxis versucht.
Wenn dich das interessiert, kannst du gerne meinen Blog abonnieren und du wirst die Fortsetzung dieses Artikels direkt in dein Mail-Postfach erhalten. Ich denke, dass ich den zweiten Teil irgendwann im Juli veröffentlichen werde.
Welche Gedanken lösen meine Schilderungen zur Schenkökonomie bei dir aus? Könntest du dir ebenfalls vorstellen, so zu arbeiten? Was denkst du, würde möglich werden, wenn das Sprechen über Geld ein empathischer, verbindender Moment werden könnte?
Vielen Dank für diese ausführliche und inspirierende Beschreibung... sehr wertvoll!
Deine Arbeit motiviert Daniel, danke.