Geld gibt es gar nicht, es gibt nur unsere Vorstellung davon
Weshalb das Geldsystem nur ein System von Meinungen und Ideen ist und wo ein zentraler Ansatzpunkt für eine artgerechtere Neugestaltung liegen könnte.

In letzter Zeit häufen sich die Berichte von einschneidenden Veränderungen im Finanzsystem. Nicht erst seit dem Niedergang der Credit Suisse sind Banken in Schieflage, die NZZ am Sonntag titelte jüngst „Wankende Banken“, die Zinsen steigen und die Immobilienpreise sinken erstmals seit 20 Jahren wieder. All diese Veränderungen sind verbunden mit Ängsten und Befürchtungen, was das für uns bedeuten und inwiefern wir künftig unter Verschlechterung leiden könnten. Was mich bei solchen Geschichten immer wieder fasziniert: Wie sehr das Geldsystem unsere Leben prägt oder gar dominiert, obwohl wir das alles selbst erfunden haben! Geld ist nur eine Idee, es gibt dafür kein Naturgesetz wie z.B. bei der Schwerkraft. Und dennoch ist das Geldsystem so prägend für uns. Handelt es sich hier vielleicht sogar um eine der prägendsten Erfindungen der Menschheit?
Grundsätzlich wäre unser Leben auch ohne Geld möglich. Natürlich nicht in der Art und Weise, wie wir es heute führen, aber das Leben an sich braucht kein Geld. Es ist alles da, auch ohne Geld. Menschen haben über tausende von Jahren hinweg ohne Geld gelebt, konnten Nahrung, Unterschlupf, Sicherheit und Gesundheit ohne Geld gewinnen. In einem gewissen Sinne hat die Erfindung des Geldes unser Leben vielleicht durchaus vereinfacht, so dass wir uns nicht mehr jeden Tag um Nahrung, Unterschlupf, Sicherheit und Gesundheit sorgen müssen, da wir das alles nun mit Geld kaufen können. Wir müssen uns eigentlich also nur noch um Geld sorgen. Ich denke jedoch, dass genau darin ein Trugschluss liegt: Sich „nur“ um Geld sorgen zu müssen ist unter dem Strich nicht einfacher, denn daraus entstehen für viele Menschen - die Wortschöpfung liegt oben im Text bereits sehr nahe - Geldsorgen. Und damit einher geht auch eine merkwürdige Bewertung in unserer Gesellschaft: Wir ehren und bewundern Menschen, die viel Geld haben und verdrängen oder verurteilen Menschen, die kein Geld haben. Und mich beschäftigt immer wieder diese eine Frage: Wenn Geld eine Erfindung von uns Menschen ist, weshalb bedeutet Geld dann für so viele Menschen so viel Leid?
Ich wiederhole mich: Eigentlich wäre alles da, auch ohne Geld. Der amerikanische Aktivist Robin Greenfield hat zum Beispiel gezeigt, wie er einen Monat lang nur von selber in der Natur gesammelter Nahrung leben konnte. In einem früheren Projekt hatte er bereits ein Jahr lang nur von Nahrung gelebt, die er selber angepflanzt oder selber gesammelt hatte. Mit dem modernen Leben in unserem Geldsystem geht die Vorstellung einher, dass Geld unser Leben massiv vereinfachen würde, dass wir uns damit von der Mühsal eines Jäger- und Sammlerlebens befreien konnten. Diverse Ethnologen kommen jedoch zum Schluss, dass Jäger- und Sammler nur ungefähr zwei bis drei Stunden pro Tag gearbeitet haben. Was erkaufen wir uns mit unserem Geld also wirklich? Mir scheint, dass wir alle so viel arbeiten müssen, nicht um unser Leben gut gestalten zu können, sondern um ein entrücktes (um nicht zu sagen: verrücktes) System am Laufen zu halten. Sei dies die Produktion und der Konsum von unzähligen Produkten, die eigentlich niemand braucht oder die Finanzierung irrwitzig hoher Gehälter in unproduktiven Berufen wie Fussballer, Schauspielerin oder Influencer. Weshalb tun wir das? Welcher Idee sind wir dabei verfallen? Und was für eine neue Idee könnten wir stattdessen leben? Man stelle sich zum Beispiel nur mal vor, welche unsinnigen Geldsummen weltweit in Marketing und Sponsoring fliessen und wie viel Hunger oder Ungerechtigkeit mit diesem Geld aufgelöst werden könnte. Nochmal: Was tun wir da eigentlich? Was ist das für ein Spiel? Und weshalb spielen wir alle so gut mit?
Das Monster, das wir schufen
Ich habe als erste Ausbildung eine Kaufmännische Lehre auf einer Bank absolviert. Direkt nach der Lehre habe ich einige Zeit in der Wertschriftenadministration gearbeitet. Das heisst, ich war mitverantwortlich, von unseren Kunden getätigte Börsengeschäfte (z.B. Kauf oder Verkauf von Aktien) abzurechnen und korrekt zu verbuchen. Ich habe auf einer kleinen Regionalbank im Berner Oberland gearbeitet und entsprechend klein war auch unsere Wertschriftenabteilung. Dennoch hat mich bereits damals erstaunt, wie viel hier in die Börse und das Geldsystem hineininterpretiert wurde. Die Stimmungslage beim Kundenberater, der hauptsächlich für seine Kunden Börsengeschäfte getätigt hat, war jeweils sehr stark davon abhängig, ob die Kurse steigen oder sinken. Mich hat fasziniert, wie er der Börse ein Eigenleben zugeschriebenen hat, als ob die Kurse von selbst steigen oder sinken würden. Für mich war jedoch bereits damals, noch vor meinem Psychologie-Studium, klar, dass es sich hierbei eigentlich nur um Massenpsychologie handelt: Wenn viele Menschen glauben, dass eine Investition in eine Firma sich lohnt und deren Aktien kaufen, dann steigt die Nachfrage, gleichzeitig sinkt das Angebot und ergo steigt der Preis. Und im umgekehrten Falle: Wenn viele Menschen denken, dass eine Firma bald an Wert verlieren wird, dann verkaufen sie ihre Aktien, das Angebot steigt, die Nachfrage sinkt und entsprechend sinkt auch der Preis. Börsenkurse haben kein Eigenleben, sie sind immer nur ein Resultat unserer Erwartungen und Projektionen. Ein Preis kommt immer durch Angebot und Nachfrage zu Stande, also da, wo sich Angebot und Nachfrage treffen. Das haben wir eigentlich bereits in der Berufsschule so gelernt. Gleichzeitig haben sie uns im Bankfachunterricht auch erklärt, welchen unterschiedlichen Einflussfaktoren Börsenkurse unterliegen. Was dabei nicht vermittelt wurde: Diese Faktoren beeinflussen die Kurse niemals direkt, sondern sie beeinflussen höchstens die Erwartungshaltungen der Menschen, die dann mit ihren Handlungen die Kurse beeinflussen. Und dennoch habe ich in der kleinen Wertschriftenabteilung erlebt, wie der Markt, die Börse, die Kurse angebetet, ja fast vergöttert wurden. Wie muss das erst in den grossen Börsenhandelsräumen dieser Welt zugehen, wenn schon im tiefen Berner Oberland diese Überhöhung des Marktes spürbar wird?
Was ich mit dieser Episode ausdrücken will: Geld und damit verbunden das Geldsystem hat kein Eigenleben, es hat keinen eigenen Charakter. Geld ist immer nur eine Reflektion unserer Erwartungen, eine Projektionsfläche für unsere Hoffnungen und Wünsche sowie auch Ängste und Befürchtungen (Buchempfehlung: “30 dreiste Lügen über Geld” von Peter König). Schlussendlich geht es also im Geldsystem nur darum, welche Ideen und Meinungen die Menschen vertreten und wie sie diese in Handlung umsetzen. Nur das beeinflusst das Finanzsystem. Es ist rein von Menschen gemacht. In den aktuellen Berichterstattungen über steigende Zinsen, sinkende Immobilienpreise und hohe Inflation sehe ich aber immer wieder diesen Mythos des Eigenlebens. Es wird etwa darüber berichtet, dass „die Zinsen steigen“, als würden sie dies im eigenen Antrieb tun. Vor allem in der Darstellung der Bedrohung des Zinsanstiegs wird aus meiner Sicht unterschlagen, dass diese Bedrohung von Menschen gemacht ist. Wir sind das Geld, wir sind die Zinsen, wir sind die Immobilienpreise und wir sind die Börsenkurse. Und das bedeutet, dass wir alles auch ganz anders machen könnten. Die Herausforderung dabei ist jedoch, dass das Finanzsystem mittlerweile so komplex geworden ist, dass es so viele unzählige Verbindungen und Knotenpunkte aufweist, dass wir es nicht einfach so anpassen können. Es ist ein Monster, das wir erschaffen haben - und doch, oder gerade deshalb, können nur wir es zähmen.
Ein hoch komplexes System von Ideen und Meinungen
Ich denke, eine zentrale Herausforderung unserer Zeit ist, dass so viele Menschen weltweit direkt oder indirekt in unserem globalen Wirtschafts-, Finanz- und Handelssystem (=Geldsystem) miteinander verbunden sind. Dabei können die Handlungen jedes Einzelnen theoretisch jederzeit das ganze System beeinflussen und das zumeist auf ganz unvorhersehbare Weise. Es entsteht eine unglaubliche und schier endlose Komplexität, in der niemand mehr in der Lage ist, alles zu überblicken oder zu überwachen, geschweige denn zu steuern. Verstärkt wird diese Entwicklung seit ungefähr einem Jahrzehnt durch eine zusätzliche Vernetzung der Menschen in den Sozialen Medien, wo sich potenziell jede Handlung (hier: Meinung) jedes Menschen direkt auf jeden anderen Menschen weltweit auswirken kann. Es lässt sich nicht prognostizieren oder kontrollieren, wie sich das ganze Gefüge bewegt, wer wen beeinflusst, woher eine Veränderung oder neue Entwicklung kommen könnte. Während es in den sozialen Medien sehr offensichtlich um Meinungen und Ideen geht, ist meiner Meinung nach auch das Geldsystem nichts anderes als ein System von Meinungen und Ideen. Primär geht es dabei um Meinungen, was wie viel Wert hat und wie viel entsprechend dafür zu bezahlen ist.
Stabilität entsteht in diesem System der Meinungen also wahrscheinlich primär dann, wenn die Meinungen möglichst synchron sind oder in einer guten Balance zueinander stehen, damit das System insgesamt nicht zu stark in Bewegung kommt. Vielleicht erklärt dies die zunehmende Zuspitzung auf einfache, oftmals rein bipolare Kategorisierung (z.B. richtig-falsch, schwarz-weiss, dafür-dagegen etc.) in Politik und Medien in den vergangenen paar Jahren? Und ist vielleicht auch die stärker gewordene Cancel Culture eine Folge davon, ein Versuch, der Vielfalt der Meinungen und damit der Komplexität im System ein wenig Herr zu werden? Für mich liegt jedenfalls auf der Hand: Je stärker wir global vernetzt sind, umso enger gekoppelt globale Netzwerke werden, desto bedrohlicher wird Meinungsvielfalt für die Stabilität dieses gigantischen komplexen Systems. Denn dieses System besteht eben nur aus Ideen und Meinungen - frei nach Otto Scharmer: Es gibt nichts auf der Welt, ausser die Idee, was es auf der Welt gibt (bei Scharmer: “Thinking creates the world”). Neu in unserer Zeit ist nun, dass Ideen und Meinungen in Sekundenbruchteilen weltweit geteilt werden können und dass dadurch ein globales Super-(Supra)-System entsteht, welches regional unterschiedliche Ideen wie nie zuvor sichtbar macht. Und dies verstärkt wohl nicht nur die Komplexität, sondern gleichzeitig auch die Anfälligkeit des globalen Systems.
Fatal wird es im Geldsystem nämlich dann, wenn sich Ideen sehr schnell verändern. Zum Beispiel eben die Idee, wie viel Wert Immobilien haben, wie gut eine Firma aufgestellt ist oder wie finanziell gesund ein Finanzinstitut ist. Neu ist im Zeitalter von Social Media, dass jederzeit jemand eine neue Idee verbreiten kann (z.B. Firma X ist gar nicht so viel wert oder Firma Y ist eigentlich viel mehr wert - jüngst etwa geschehen bei der Credit Suisse bzw. bei Gamestop). Die Meinungsmache wird durch die sozialen Medien massiv beschleunigt und potenziert. Nicht zufällig war hinsichtlich der sozialen Medien bei den jüngsten „Bank Runs“ von „Brandbeschleunigern“ die Rede.
Wie könnte ein artgerechtes Geldsystem entstehen?
Bezüglich des Geldsystems geht es mir nicht um die Frage, ob das alles richtig oder falsch ist, ob es sinnvoll ist oder ob es natürlich ist, sondern ob es uns gut tut und ob es uns in unserer Wesensform, in unserer Art gerecht wird. Mich beschleicht hier immer wieder das Gefühl, dass das ganze Geldsystem zu sehr entrückt ist, zu weit weg vom Konkreten, vom Lebendigen.
Bereits während meiner Lehrzeit auf der Bank vor 20 Jahren gab es zum Beispiel so genannte „Strukturierte Produkte“, die eigentlich eine Sammlung und Verknüpfung von diversen Teilprodukten (z.B. Optionen, Futures, Indexfonds oder Aktien) waren. Diese waren derart verschachtelt, dass eigentlich kein Kundenberater deren Funktionsweise wirklich zu 100% erklären konnte. Ich stelle mir vor, dass Finanzprodukte heute noch viel komplexer geworden sind und dass bald auch künstliche Intelligenz sich im Finanzsystem noch weiter ausbreiten wird. Von Hochfrequenztrading war “zu meiner Zeit” etwa noch nirgends die Rede, während heute ein Grossteil aller Börsengeschäfte durch Computer ausgeführt werden. Hochfrequent heisst dabei, dass eine Software automatisch und innerhalb von Sekundenbruchteilen Kauf- und Verkaufsentscheidungen ausführt, um auch noch die allerkleinsten Kursschwankungen ausnützen zu können. Wenn man bedenkt, für was im späten Mittelalter die ersten Aktiengesellschaften gegründet wurden oder was die Idee hinter der Gründung der ersten Banken war, dann kann man sich ab dieser Entwicklung wirklich nur noch wundern. Ursprünglich ging es im Geldsystem nämlich darum, gemeinsam ein Vorhaben umzusetzen, welches eine Person allein nicht verwirklichen könnte. Also die Kräfte zu bündeln, um gemeinsam etwas zu gestalten. Wie konnte aus diesem konstruktiven Geist ein derart destruktives System erwachsen? Mir kommt dazu zwangsläufig folgendes Zitat von Mahatma Gandhi in den Sinn: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“
Wenn das Geldsystem nur eine Reflektion unserer Meinungen und Ideen ist, dann müssen wir in der oben skizzierten Entwicklung vielleicht erkennen, welche Meinungen und Ideen sich schlussendlich durchgesetzt haben: der Glaube an die Wichtigkeit von Konsum und Profit, Geld als Leit- und Statusmotiv sowie schlussendlich die Idee vom unendlichen Wachstum. Und ich denke, dass dies alles verbunden ist mit einem Gefühl der Knappheit, einem Narrativ der Trennung, welches ich in diesem Blog bereits mehrmals erwähnt habe. So beschreibt der Geldforscher Peter König den Ursprung von Gier denn auch wie folgt: Gier entsteht, wenn ein Mensch einen Teil von sich selbst unbewusst auf das Geld projiziert. Das will heissen, durch Leitsätze wie “Ich bin nur frei (oder: sicher, glücklich etc.), wenn ich genügend Geld habe”, werden wir niemals frei, niemals sicher und niemals glücklich. Wir werden vielmehr ewig dem Geld hinterherrennen und hier eine Sicherheit oder Freiheit suchen, die eigentlich nur in uns selbst zu finden ist. Als Ausweg empfiehlt König daher das Einüben neuer Leitsätze: “Ich bin frei - mit und ohne Geld” oder “Ich bin sicher - mit und ohne Geld”. Unsere Projektionen ins Geld zu erkennen und loszulassen könnte also einen zentralen Ansatzpunkt für eine Neugestaltung des Geldsystems darstellen.
Ich stelle mir vor, dass es in diesem Zusammenhang ein Vorteil war, dass indigene Völker in kleineren Verbünden gelebt haben. Hier gab es viel weniger die Möglichkeit, dass eine Idee zu gross aufgeblasen wird, zu sehr potenziert, zu sehr abgehoben, entrückt wurde. Dass es Geld gibt und ein Geldsystem, ist kein Naturgesetz. Es hätte alles auch ganz anders kommen können, wenn sich eine andere Idee historisch durchgesetzt hätte. Liegt ein Teil des Problems vielleicht auch darin, dass wir heute das Gefühl haben, wir müssten global alle nach mehr oder weniger den gleichen Ideen leben?
Die entscheidende Frage für mich ist daher, wie lange wir an dieser Idee noch festhalten werden, ob unsere Idee vom Geldsystem parallel mit den vielen anderen technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen noch lange zeitgemäss ist, wie wir das Geldsystem allenfalls artgerechter gestalten könnten und vor allem, wie wir diese Fragen überhaupt beantworten können. Wie erkennen wir, wann eine Idee nicht mehr passt? Braucht es dazu zwingend eine neue, bessere Idee, welche die alte überflüssig macht? Und wer könnte eine neue Idee durchsetzen oder darüber entscheiden? Gerade wenn wir bedenken, dass das Geldsystem nur ein System von Meinungen ist, wird deutlich, wie schwierig es sein dürfte, hier Veränderungen anzustossen. Ein soziales System besteht jedoch immer nur aus Kommunikation, wie können wir also die Welt verändern, wenn nicht durch Kommunikation?
Dieser Blog ist ein Versuch, der Welt meine Ideen anzubieten und dadurch gleichzeitig meine Meinungen und Ideen zu testen und weiterzuentwickeln.
Hilfst du mir dabei?
PS. In gewissem Sinne ist dieser Text eine Fortsetzung eines vorherigen Posts, wo ich mir verschiedene Fragen zum Geldsystem gestellt habe. Falls dich das ebenfalls interessiert, kannst du die Fragen hier nachlesen.
Danke für diese Reflexion!
Ich bin gerne dabei, nach alternativen Wegen zu suchen und diese auszuprobieren.