Wir brauchen keinen Fortschritt
Eine Frühlingswanderung, ein indigener Denker - und ein Plädoyer für mehr Verlangsamung und weniger Effizienz.

Viele Menschen würden sich wahrscheinlich ärgern, wenn ihnen zwei Tage bezahlte Arbeit kurzfristig abgesagt würden. Nach einem arbeitsintensiven ersten Quartal war ich jedoch gar nicht so unglücklich, als mir vergangene Woche die Moderation einer zweitägigen Retraite abgesagt wurde. Bei strahlend schönem Wetter habe ich die Gelegenheit genutzt, um eine Frühlingswanderung zu unternehmen, die ich schon länger im Kopf hatte: Von Sursee nach Willisau.
Ich sitze also am Morgen um 09:00 Uhr im Zug von Luzern nach Sursee und lese die Zeitung. Mir sticht dabei nicht Trumps Zolltraum in die Augen, sondern ich bleibe bei folgender Schlagzeile hängen: “Dammbruch in der Gentechnik?” Bundesrat Rösti will offenbar das in der Schweiz gültige Gentechnikverbot in der Landwirtschaft lockern. Natürlich: Um der zunehmenden Trockenheit aufgrund des Klimawandels begegnen zu können. Die Zeitung einmal umblättern zur folgenden Schlagzeile: “Technologie als Klimaretter?” Ein Klimaforscher der Universität Luzern propagiert, mehr in Technologien zu investieren, die der Atmosphäre Kohlenstoffdioxid entziehen. Im Artikel ist von “Kohlendioxidsauger” die Rede. Fehlt nur noch ein Artikel, der verspricht, wie KI den Klimawandel bekämpfen wird. Immerhin sind die beiden Artikel noch mit einem Fragezeichen versehen - aber ob das genügt?
Mehr vom Ewiggleichen
Ich persönlich glaube nicht, dass wir mit noch mehr Technologie die aktuellen Herausforderungen lösen können, welche durch die Ausbeutung unseres Planeten entstanden sind. Denn aus meiner Sicht sind diese Probleme gerade wegen all den Technologien und dem technologischen Fortschritt entstanden. Einstein würde dazu wahrscheinlich sagen: “Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Oder wir können den Satz auch direkt umformulieren: “Probleme kann man niemals mit denselben Technologien lösen, durch die sie entstanden sind.”
Die Erde reagiert auf unsere Einflussnahme. Und was mir klar scheint: Wir zerstören damit nicht den Planeten, sondern wir zerstören primär unsere Lebensgrundlage. Aus meiner Sicht benötigen wir daher unbedingt weniger Technologie - nicht noch mehr. Meiner Meinung nach sind der Einsatz von Gentechnik, Kohlendioxidsaugern oder KI zur “Bekämpfung des Klimawandels” klassische „More of the same“-Probleme. Ich glaube nicht, dass diese wirklich dazu führen werden, dass sich die natürlichen Kreisläufe auf unserem Planeten wieder in eine Richtung bewegen, die für uns Menschen gute Lebensgrundlagen schaffen. Ich gehe sogar davon aus, dass diese Lösungsansätze die Probleme nur noch schlimmer machen werden. Denn dahinter steht - Guten Tag Herr Einstein - immer noch dieselbe Denkweise.
Im Kern liegt das Problem aus meiner Sicht darin, dass wir Menschen im “Westen” besessen sind von der Idee, dass wir immer mehr Fortschritt generieren müssen. Immer neue Erfindungen, immer neue Technologien sollen unser Leben angeblich noch besser machen. Dabei sind dies in erster Linie Produkte in einem Wirtschaftssystem, welches die Menschen längst auf die Rolle des Konsumenten reduziert hat. Mich erstaunt es immer wieder, ja manchmal lässt es mich sogar fast sprachlos zurück: Es gibt eigentlich keine Notwendigkeit für dieses Wirtschaftssystem. Das ist eine Erfindung von uns Menschen und wir könnten gut auch ganz anders leben. Sehr lange haben die Menschen sogar ohne Wirtschaft, Konsum, Technologie und Fortschritt gelebt. Ein paar wenige tun das heute immer noch. Und vielleicht sollten wir denen besser zuhören und deren Denken ernst nehmen.
Die Sichtweise der Urvölker
Vor ein paar Wochen bin ich bei einem Artikel in der WOZ hängengeblieben. Der Titel: “Meine Sorge gilt den Weissen.” Der brasilianische indigene Denker Ailton Krenak schildert in diesem Interview, dass er sich keine Sorgen um das Überleben der indigenen Völker macht, aber um das Überleben der Weissen sehr wohl:
“Wir Indigenen haben 500 Jahre Gewalt und Kolonialisierung überlebt, aber die Weissen zerstören sich selbst.”
Ailton Krenak (brasilianischer Schriftsteller und indigener Aktivist)
Er kritisiert unter anderem die Ausbeutung des Planeten als Folge der “Zivilisation” der Menschen. Er beschreibt, wie dies in seiner Heimat - dem Amazonasbecken - bereits seit 500 Jahren passiert:
“Nach dem Kautschukboom, dem Goldrausch, der Abholzung und der Verwandlung des Dschungels in Agrarfläche wuchert das Geschwür nun tief in die Erde hinein. Es entspricht der Dynamik des globalisierten Kapitalismus, der der Erde alles entreisst, was sich zu Geld machen lässt.”
Ailton Krenak (brasilianischer Schriftsteller und indigener Aktivist)
Der globalisierte Kapitalismus, der der Erde alles entreisst, was sich zu Geld machen lässt. Genau das habe ich weiter oben gemeint: Auf mich wirken sehr viele der bisher bekannten Ansätze, wie dem Klimawandel begegnet werden soll, primär als weiterer Versuch, etwas Neues zu Geld zu machen. Weshalb sollen wir nun alle Elektro-Autos kaufen? Weshalb sollen wir alle Solarpanels auf unsere Dächer montieren? Weshalb sollen wir Wärmepumpen hinter unsere Häuser stellen?
Dahinter steckt meines Erachtens auch das Problem der einseitigen Fixierung auf die CO2-Minimierung. Wenn wir den CO2-Austoss bekämpfen, dann wird alles gut. Es wird jedoch nie darüber gesprochen, wieviel Energie die Herstellung eines Elektroautos tatsächlich verschlingt, welche Materialien wirklich in einer Batterie stecken und wie “nachhaltig” sich diese abbauen lassen. Wir haben auch eine Solaranlage auf dem Dach und eine Wärmepumpe hinter dem Haus, aber was genau für Stoffe darin verbaut sind, hat uns niemand gesagt. Und was passiert mit den Solarpanels in 20 bis 30 Jahren, wenn die Anlage ans Ende ihrer Laufzeit kommt?
Ich befürchte, dass wir erst erkennen werden, dass die Probleme nicht wirklich an der Wurzel gepackt wurden, wenn alles CO2 der Welt minimiert wurde - und es dem Planeten immer noch nicht besser geht. Wir brauchen nicht mehr Technologie, sondern weniger! Oder ein neues Verständnis davon, wie wir technologisch im Einklang mit der Erde arbeiten können. Dazu Ailton Krenak in der WOZ:
“Seit meiner Kindheit weiss ich: Wir müssen die Erde fragen, was sie will, statt sie unserem Willen zu unterwerfen. Wenn wir es nicht tun, hat es Konsequenzen.”
“Die Erde ist für uns ein Subjekt, kein Objekt, das man so lange zerstören kann, bis man merkt, dass man sich selbst zerstört. Die Europäer haben eine zivilisatorische Abstraktion geschaffen: Sie glauben, dass der Mensch eine Sache ist und die Natur eine andere. Aber sie irren sich.”

Fortschritt ist nur eine Idee
Angeregt vom Interview mit Ailton Krenak, habe ich mir sogleich sein Buch bestellt: “Ideen um das Ende der Welt zu vertagen”. Krenak bezeichnet in diesem Buch Fortschritt als “in die Zukunft gerichtete Vorstellung, es müsse irgendwohin gehen” und streicht heraus, dass das Leben diesen Fortschritt nicht vorschreibt. Es ist eine Idee von uns Menschen, eine Idee der modernen Zivilisation. Zu dieser Vorstellung gehört seiner Ansicht nach auch die Idee, dass der Mensch nützlich sein muss.
Diese Stellen muss ich mehrmals lesen, sie fordern mich heraus. Weshalb sollte ein Mensch nicht nützlich sein? Das ist doch eine gute Sache. Auch ich möchte nützlich sein, mich nützlich machen.
Wenn ich Krenak richtig verstehe, dann hat diese Idee der Nützlichkeit sehr viel mit der Vorstellung von Fortschritt zu tun. Dass es immer vorwärts gehen muss und man sich hier als Mensch beteiligen muss. Man darf nicht einfach bleiben, wie man ist oder wo man ist - man muss mitmachen beim Fortschritt, beim Fortschreiten und einen Nutzen bringen. Dem Fortschritt einen Nutzen bringen. Nützlich sein.
Ich glaube, ich kann mit den Zeilen von Krenak den fundamentalen Unterschied der westlichen, “zivilisierten” Gesellschaft und der Lebensweise der ursprünglichen Völker nachvollziehen. Folgende Passagen im Buch verdeutlichen den Unterschied in der Denkweise:
“Die ursprünglichen Völker sind nicht deswegen noch auf dieser Welt, weil man sie ausgeschlossen hat, sondern weil sie entkommen sind.” S. 134
“Die eingeborenen Völker widerstehen dem Angriff der Weissen, weil sie wissen, dass sie irren, und werden dafür meist selbst wie Verrückte behandelt. Dieser Hetzjagd zu entkommen, ein Leben zu führen, das nicht der Idee einer Nützlichkeit erlegen ist, schafft einen Ort innerer Stille.” S. 135
“Diese mögliche Welt, die wir alle teilen können, muss gar keine Hölle sein, sie kann schön sein. Das macht (den Weissen) entsetzliche Angst, und sie nennen uns faul, wir wollten uns nicht zivilisieren lassen. Als sei dieses „zivilisieren“ eine Bestimmung. Es ist ihre Religion: die Religion der Zivilisation.” S. 136
“Es scheint Weisse unglaublich zu stören, dass indigene Völker Privateigentum nicht als bedeutsam erachten. Es ist ein Erkenntnisproblem.” S. 137
Ailton Krenak in “Ideen um das Ende der Welt zu vertagen”
Wir müssen nicht nützlich sein, wir müssen nicht zivilisiert sein, wir brauchen keinen Fortschritt: Ich persönlich finde das sehr entspannend. Es berührt ein Empfinden, das ich bereits seit einiger Zeit in mir trage. Nämlich dass unser Fortschrittsdenken irgendwie nicht zu dem passt, wie das Leben eigentlich funktioniert. Wie die Natur funktioniert, die Erde.
Ich habe in meinem Text “Die Verkündung einer alten Religion” im Dezember 2023 bereits versucht darzulegen, weshalb dieser Fortschrittsglaube aus meiner Sicht religiöse Züge aufweist und wie wir meiner Meinung nach vom Wissen und dem Glauben indigener Völker profitieren könnten. Ailton Krenak beschreibt dies mit einer grossen Dringlichkeit und mit grosser Präzision. Blättern wir in seinem Buch ein paar Seiten zurück und schauen uns an, wie er über die Entfremdung vom Natürlichen, über die “Loslösung des Lebens” schreibt:
“Wenn wir glauben, der Lauf dieses wunderbaren Organismus Erde sei von den Menschen bestimmt, begehen wir den schwerwiegenden Fehler zu glauben, es gebe eine besondere menschliche Eigenschaft. Wenn es aber diese Eigenschaft gäbe, müssten wir uns heute nicht über die Gleichgültigkeit einiger Leute gegenüber dem Tod und der Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde unterhalten. Den Wald zu zerstören, den Fluss, die Landschaften, den Tod von Menschen zu ignorieren, zeigt doch, dass es keinerlei Qualitätsstandard für die Menschheit gibt.” S. 80
“In der Tradition, zu der ich gehöre, gibt es keine übernatürliche Macht. Jede Macht ist natürlich, und wir sind Teil von ihr.” S. 92
“Ich kann uns nicht unabhängig von der Natur denken. Wir können uns durchaus gedanklich von ihr unterscheiden, aber nicht körperlich.” S. 93
“Ich glaube, unsere Vorstellung von der Zeit, unsere Art, sie zu zählen und sie als einen Pfeil zu betrachten - der immer in eine Richtung weist -, ist der Grund unseres Irrtums, der Ursprung unserer Loslösung vom Leben.” S. 103
Ailton Krenak in “Ideen um das Ende der Welt zu vertagen”
Wanderwege als Vorbilder
Die letzten 10 Seiten im Buch von Krenak habe ich während der Mittagspause auf meiner Wanderung von Sursee nach Willisau gelesen. Es ist erst weniger Jahre her, seit ich mein Mountainbike verkauft habe und vollends anerkannt habe, dass Wandern und Spazierengehen eher mein Ding ist. Ich habe realisiert, wie wichtig mir die Zeit allein draussen beim Wandern ist. Es ist meine primäre Achtsamkeitspraxis.
Ich erwähne hier bewusst mein Mountainbike, weil ich denke, dass ich mir wahrscheinlich vor Jahren ein Bike gekauft habe, weil “man das jetzt doch so macht”, weil biken modern ist, cool, fortschrittlich. Wandern? Das ist doch von gestern, das ist doch langweilig! Es hat einige Zeit gebraucht, bis ich diese Vorstellungen hinter mir lassen konnte. Was auch nicht geholfen hat: Praktisch niemand aus meinem Freundeskreis ging gerne Wandern. So habe ich begonnen, Wanderungen alleine zu unternehmen - und habe realisiert, wie gut mir das tut.
Ich will damit nicht grundsätzlich etwas gegen das Mountainbiken sagen, ich finde das ok und gut, wenn es zu einem passt. Für mich lag die Herausforderung vielmehr darin zu erkennen, was ich wirklich gerne mache, was gut zu mir passt. Wie ich mich gerne erhole, wie ich zu mir selbst finde, wie ich Achtsamkeit leben kann. Jede Person muss hier ihren eigenen Weg finden, ich glaube aber, dass es viel mit Verlangsamung zu tun haben dürfte. Das widerspricht jedoch praktisch allem, was wir im Fortschrittsparadigma die ganze Zeit zu hören kriegen: Geschwindigkeit, Vereinfachung, Effizienz.
Gerade beim Wandern finde ich es immer wieder eindrücklich, wie wenig effizient Wanderwege angelegt sind. Von Sursee nach Willisau wäre der schnellste Weg wahrscheinlich der Hauptstrasse entlang - aber genau darum geht es beim Wandern eben nicht. Auf eine Anhöhe steigen, die Aussicht geniessen, durch den Wald wieder absteigen, einen Zick-Zack-Kurs gehen, um noch das Schloss zu besichtigen: Das muss ich mir gar nicht heraussuchen, sondern der Wanderweg ist bereits so angelegt. Es geht nicht um Effizienz und Geschwindigkeit, sondern um Schönheit. Ich finde, in vielen anderen Lebensbereichen könnten wir von dieser Logik der Wanderwege ebenfalls stark profitieren.
Das Verschwinden der Schönheit in alltäglichen Dingen
Schönheit, oder: Ästhetik scheint in den Dingen, die wir heute bauen und produzieren eher in den Hintergrund zu geraten. Immer wieder staune ich, wie lustlos und einfältig moderne Gebäude daherkommen. Vieles, was neu gebaut wird, ist eigentlich nurmehr eine Variation eines viereckigen Kastens. Wo sind die schönen Details und Schnörkel hingekommen, die wir alle in den Altstädten so gerne bewundern? Ich vermute: Geschwindigkeit, Vereinfachung, Effizienz. Fortschritt.
Der Musik- und Kulturkritiker Ted Gioia hat darüber geschrieben, wie die Schönheit in alltäglichen Dingen verloren geht und nennt als Beispiel alte japanische Zugtickets, welche liebevoll gestaltet wurden. Der Substacker Gurwinder schreibt zu dieser Entwicklung, dass die Designs in alltäglichen Dingen immer einfacher werden, weil Einfachheit Sicherheit bedeutet. Je weniger an einem Objekt noch dran ist, umso weniger gibt es zu rechtfertigen, umso weniger kann sich jemand beleidigt fühlen. Er stützt seine These mit folgenden Bildern:

Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber ich vermisse diese schönen Details. Und ich glaube auch, dass damit nicht nur unsere Kultur an Einzigartigkeit und Identität verliert, wie Gurwinder schreibt, sondern dass wir dadurch auch Produkte erschaffen, die viel weniger langlebig sind, resp. zu denen wir viel weniger Sorge tragen. Und das passt natürlich prima zu unserer Wirtschaftsmaschine, die möchte, dass wir ständig neues Zeugs kaufen. Folgendes Meme bringt diesen Verlust an Qualität auf den Punkt:
Diese Bilder oben zeigen, wie in der Produktion von Produkten und Gütern heute weniger Liebe zum Detail steckt und weshalb dem so ist, liegt wortwörtlich auf der Hand: Es handelt sich nicht mehr um ein Handwerk, welches von einer Meisterin oder einem Meister seines Faches liebevoll ausgeübt wird, sondern die Produkte werden in Massenfertigung hergestellt - einfach, günstig, effizient. Der vorläufige Höhepunkt dieses Verlusts an Ästhetik in modernen Designs scheint der Tesla Cybertruck darzustellen. Ted Gioia schreibt dazu: “The cybertruck replaces beauty with power”.
Fokus auf Effizienz hat einen Preis
Auf meiner Wanderung komme ich mehrmals durch Waldabschnitte, in denen im vergangenen Winter geholzt wurde. Mir fällt auf, was ich kürzlich auch im Bireggwald in Luzern beobachtet habe: Die Äste werden beim Holzen einfach im Wald liegen gelassen, der Wald sieht aus wie ein Schlachtfeld. Klar, wenn ein Baum dem Ende seines natürlichen Lebenszyklus nahekommt, dann fällt er auch zu Boden, das Holz rottet langsam vor sich hin und macht Platz für neues Leben. Aber wenn nach einem Holzschlag das gesamte Astwerk einfach am Boden liegen gelassen wird, kann dann in diesem Dickicht an Ästen und Reisig überhaupt wieder etwas wachsen?
Dass der sogenannte “Schlagabraum” liegen gelassen wird, wird in Merkblättern damit begründet, dass auf diese Weise wertvolle Nährstoffe im Wald bleiben. Gleichzeitig soll damit auch verhindert werden, dass Asthaufen wie früher üblich nach dem Holzschlag am Waldrand verbrannt werden. Ich vermute jedoch, dass es sich ebenfalls um eine Massnahme zur Steigerung der Effizienz handelt: Wir benötigen von der Tanne eigentlich ja nur den Stamm, der erzielt den grössten Ertrag, also lassen wir den Rest einfach im Wald liegen und verlieren nicht zu viel Zeit damit. Wahrscheinlich wurde hier auch nicht von Hand gearbeitet, sondern mit schweren Forstmaschinen. Davon zeugen tiefe Furchen im Waldboden (Stichwort “power”).
Dass es auch anders geht, sehe ich an anderen Stellen im Wald: Zum Abtransport bereite Asthaufen, daneben ein Stapel frisch gespaltenes Buchenholz. Ich stelle mir vor, dass hier ein Bauer von Hand im Holz war und mit reduziertem Maschineneinsatz das Holz geschlagen und aufbereitet hat. Und der kleine Bauer kann es sich nicht leisten, einen wesentlichen Teil des Baumes einfach nicht zu verwerten, wenn er ihn schon geschlagen hat.
Denn auch das Astwerk ergibt gutes Brennmaterial oder kann anderweitig verwertet werden. Meine Grosseltern beispielsweise haben im Kachelofen immer mit Ästen gefeuert und von einem Holzschlag alles verwertet, was sie konnten. Auch beim Heuen wurde jeder letzte Grashalm noch von Hand zusammengerecht. Etwas anderes konnten sie sich gar nicht leisten. Meine Grossmutter hat sich bald aufgeregt über die jungen Bauern mit ihren Maschinen, die das halbe Heu liegen lassen. Kürzlich habe ich gelesen, dass heute jeder Bauer in der Schweiz im Schnitt 2,6 Traktoren hat - wofür brauchen sie so schwere Maschinen? Auch hier: Geschwindigkeit, Effizienz, Fortschritt, Maschinen. Doch was geht dabei verloren?
Der Dokumentarfilmer Simon Baumann hat in seinem Film “Zum Beispiel Suberg” berichtet, wie im Dorf Suberg die Bauern früher einander beim Verrichten der Arbeiten mit ihren Maschinen gegenseitig ausgeholfen haben. Nicht jeder musste jede Maschine selbst besitzen, es genügte, wenn es in der Gemeinschaft eine Maschine gab. Klar haben sich die Bauernhofstrukturen in der heutigen Zeit verändert, so dass es tendenziell weniger Höfe, dafür aber viel grössere gibt. Ohne schwere Maschinen lässt sich das viele Land oftmals gar nicht mehr bestellen.
Aber könnte es nicht sein, dass der Treiber, der die Höfe weniger und grösser werden lässt, gar nicht darin liegt, dass kleine Höfe an sich nicht mehr rentieren, sondern dass kleine Höfe für die Agrarindustrie nicht mehr rentieren? Wenn ich grosse Traktoren und Landwirtschaftsmaschinen verkaufen will, dann brauche ich mehr grosse Höfe.
Meine These: Den Kleinbauern wird durch den “Fortschritt” suggeriert und auferlegt, dass sie ihren Betrieb ohne moderne Technologie nicht mehr effizient führen können. Wahrlich kann ein Kleinbauer sich nicht einfach so einen Traktor leisten. Bei Traktoren gilt die Faustregel CHF 1’000 pro PS - die durchschnittlich 2,6 Traktoren kosten folglich bei je 100 PS total CHF 260’000. Und das bei einem Jahreseinkommen von durchschnittlich CHF 52’000, im Berggebiet sogar nur CHF 39’000. Es geht also vielleicht gar nicht darum, dass Kleinbauernhöfe nicht mehr rentieren würden, sondern dass sie sich die schweren Maschinen schlichtweg nicht leisten können.
Was ist die Realität der Natur?
Ich bin mir bewusst, dass ich naiv erscheinen mag, wenn ich den Fortschritt und den Einsatz moderner Technologien in Frage stelle. Das erinnert mich an die Zeit, als ich vor 10 Jahren in der Swisscom Teil eines Teams war, welches neue Formen der Zusammenarbeit ausprobiert hat. Natürlich hatten wir mit Widerstand zu kämpfen und nach einem Rückschlag haben die Eltern meiner Teamkollegin zu ihr gesagt: “Willkommen in der Businessrealität!” Was sie damit ausdrücken wollten: Neue Formen schön und gut, schlussendlich ist die Realität aber eine andere. Auch bezüglich Technologie und Fortschritt lässt sich bald einwenden: Das ist halt jetzt einfach die Realität. Aber diese Realität ist nicht so eindeutig. Wenn man Ailton Krenak zuhört, wird deutlich, dass es auch eine ganz andere Sichtweise gibt. Wer genau hat nun die Realität erkannt und wer nicht?
Ich finde, wir müssen unsere Instinkte wieder schärfen. Wieder mehr unserer Intuition vertrauen, den Mustern und Zyklen der Natur, statt einseitig auf Technologie und Fortschritt zu setzen. Dazu gehört meines Erachtens auch eine gesunde Wissenschaftskritik. Es ist schön und gut, wenn Studien besagen, dass Bäume und Wald gut für unsere Gesundheit sind (z.B. hier). Aber es kann nicht sein, dass wir nur noch dann in dem Wald gehen, wenn eine Studie sagt, dass das gut für uns sei.
Aktuell lesen wir überall, wie “die Börse” aufgrund der neuen US-Zölle einbricht und dass das sehr schlimm sein soll. Ich denke, das ist vor allem schlimm für das Wirtschaftssystem und das Narrativ des ewigen Fortschritts. Weshalb sollten Aktienkurse immer nur aufwärts gehen? Wie soll das möglich sein? Wir können auch gut ohne Aktienkurse leben, ich persönlich finde das jetzt nicht wirklich bedrohlich, wenn die Kurse sinken.
Diese Börsenkrise kann uns vielmehr Anlass geben darüber zu reflektieren, was Erfolg im Leben wirklich bedeutet. Von Steffi Bednarek, der Gründerin des “Center for Climate Psychology” fühle ich mich mit ihrem Text “Rethinking Success in Regenerative Culture” diesbezüglich sehr abgeholt:
“In a forest, not all acorns sprout. Of those that do, only a fraction survive long enough to become saplings, let alone mature oaks. The rest are broken down, becoming the compost that nourishes the soil, feeds the fungi, and supports the thriving of others. Their purpose is no less important, but it is fundamentally different from what we might romantically imagine as “success.”
To truly serve the thriving of an ecosystem, whether that ecosystem is natural, organisational, or cultural, we must adopt a different attitude towards the inevitable dying of some of our hopes, expectations, and dreams of success. Sometimes, the most regenerative act is to let go: to allow an initiative to stagnate or fade away, recognising its contribution as part of the larger cycle.
The metaphor of the acorn teaches us that life is cyclical, not linear. An acorn’s purpose is not solely to grow into a tree but to play its role in a complex, interconnected web of life. Sometimes, that role is to grow. Sometimes, it is to nourish. Both are vital.”
Steffi Bednarek in “Rethinking Success in Regenerative Culture”
Das Leben ist nicht linear, sondern zyklisch. Nur aus einem Bruchteil der Eicheln wird ein neuer Baum, dennoch ist jede Eichel wichtig für das Ökosystem. Gerade auch in ihrem Sterben. Wie wir über Geld und Wirtschaft denken, widerspricht so vielem, was in der Natur tatsächlich passiert.
Das falsche Heiligenbild
Vor ein paar Wochen habe ich während der Moderation eines Workshops am Flipchart nach einer Formulierung gesucht, als jemand aus dem Teilnehmerkreis sagte: “Frag doch Chat-GPT, wie man das schreiben könnte.” Ich denke, es war nur halb ernst gemeint, aber als ich entgegnete, dass ich Chat-GPT noch nie benutzt habe, entbrannte kurz eine heftige Diskussion. Eine andere Teilnehmerin insistierte, dass ich es ausprobieren müsse: “Frag bei deiner nächsten Schreibblockade Chat-GPT mal um Hilfe und schau, was passiert!” Meine Antwort darauf: “Wenn ich eine Schreibblockade habe, gehe ich am liebsten in den Wald.”
Ich glaube an die Kraft der Verlangsamung. Ich glaube nicht an die Kraft von KI. Und ich finde es gefährlich, wenn wir unser Denken und das Suchen nach Inspiration an Maschinen auslagern. Schreiben ist Training für unseren Geist, für unser Denken. Was passiert mit uns, wenn wir alle Schreibarbeiten an die KI delegieren?
„To me, the greater danger of AI is not that machines will think for themselves, but that humans will cease to.“
Gurwinder in “Avoiding the Automation of your Heart”
Das Thema KI ist allgegenwärtig und verkörpert aktuell die Speerspitze des technologischen Fortschritts. Interessanterweise wirft uns dieser technologische Fortschritt jedoch auch auf den Animismus zurück: Wir behandeln die KI, als wäre sie beseelt. Die Chatbots sind bewusst so angelegt, damit sie auf uns menschlich wirken. Die Ironie der Geschichte ist jedoch gross: Denn gleichzeitig wird die tatsächlich beseelte Welt um uns herum negiert und unterdrückt.
Der interdisziplinäre Philosoph Mario Veen bringt es auf den Punkt: Anstatt unser Konzept von „Intelligenz“ zu erweitern und die Intelligenz von Tieren, Pilzen, Bäumen, Wäldern und des Planeten an sich einzubeziehen, haben wir ein künstliches Abbild unseres begrenzten Konzepts der Intelligenz erschaffen - und nennen es „Künstliche Intelligenz“.
Ich bleibe bei meinem Fazit: Wir befinden uns in einer spirituellen Krise. Wir behandeln Technologie und Fortschritt, als wären sie heilig, und haben gleichzeitig verlernt, das Heilige in der Natur zu ehren.
Ein Leben ohne ständige Verfügbarkeit
Bedroht ist nicht das Leben an sich, sondern der Lebensstil, den wir heute pflegen. Sind wir bereit, dies zu ändern? Wie könnte das aussehen? Ich denke, ich könnte gut damit leben, wenn nicht mehr immer alle Produkte sofort verfügbar wären. Ja, ich könnte sogar damit leben, wenn wir nicht immer den ganzen Tag Strom hätten.
Wann hast du das letzte Mal einen Stromausfall erlebt? Bei mir ist es lange her, aber ich erinnere mich noch gut: Während meiner Studienzeit ist einmal an einem Abend für mehrere Stunden der Strom ausgefallen. Ich habe in meinem WG-Zimmer eine Kerze angezündet und Gitarre gespielt - und es unglaublich genossen. Das ging so weit, dass ich mir dies als “Geschäftsidee” in mein Notizbuch geschrieben habe: Wie wäre es, wenn man bei seinem Stromanbieter ein “Stromausfallabo” abschliessen könnte? Der Stromanbieter würde dann zufällig und ohne Vorankündigung einfach plötzlich den Strom abstellen. Vielleicht könnte man noch angeben, zu welchen Zeitfenstern sicher nicht und dass der Stromausfall nicht länger als z.B. zwei Stunden dauert, damit die Lebensmittel in Kühlschrank und Gefrierschrank nicht verderben.
Stromausfall als Einladung zu Achtsamkeit, zu guten Gesprächen und analoger Tätigkeit. Und gleichzeitig wird Strom gespart. Eigentlich finde ich das immer noch eine gute Idee. Was würdest du machen, wenn Strom nicht mehr die ganze Zeit verfügbar wäre? Welche deiner Hobbys kannst du auch ohne Elektrizität ausführen?
Ich stelle mir vor, dass wir irgendwann einfach nicht mehr so weitermachen können, als wäre alles immer endlos verfügbar. Und ich erkenne nach wie vor keine echten Nachhaltigkeitsbestrebungen in unserer Gesellschaft. Nicht wenn gleichzeitig dermassen viel in äusserst energieintensive Technologien investiert wird. Die Politikwissenschaftlerin Katika Kühnreich sagte dazu kürzlich treffend, dass wir die Energie halt nicht in Form von Holzscheiten in die Wohnung tragen müssen - sonst wäre die KI morgen tot.
Was ist aus deiner Sicht heiliger: Eine KI oder ein Baum? Wie hast du es mit dem Fortschritt? Und wo findest du Verlangsamung? Möchtest du das überhaupt?
Ich gehe mit Daniel Sigrist in den meisten Punkten einig: Wandern als Achtsamkeits-Praxis, das Verschwinden der Ästhetik und ein Leben ohne ständige Verfügbarkeit.
Bei der Nutzung von KI würde ich ihm aber widersprechen ;-) Sinnvoll eingesetzt gibt mir die KI mehr Zeit für Wanderungen und Momente der Nicht-Verfügbarkeit.
By the way: Danke für die Verlinkung meiner Traktoren-Geschichte.