Intuition vs. Wissenschaft
Weshalb diese Gegenüberstellung uns nichts bringt und wie uns das Aufkommen künstlicher Intelligenz letztlich zurück zu unserer Intuition führen könnte.

Vor ein paar Wochen ging ein Text mit dem Titel “Warum Querdenker meinen, recht gehabt zu haben” durch diverse Zeitungen und Online-Medien. Darin wird die Aussage gemacht, dass die Kritiker der Corona-Massnahmen im Nachhinein zwar in einigen Punkten recht gehabt hätten, aber dass dies keine Rolle spiele, da ihre damalige Kritik nicht auf wissenschaftlichen Daten, sondern rein auf Bauchgefühl basiert hätte. Im Artikel wird eine Psychologin zitiert, die der Meinung ist, dass hier das berühmte blinde Huhn halt auch mal ein Korn gefunden habe. Ich denke, wir müssen uns nochmal kurz vor Augen führen, was hier eigentlich genau gesagt wird: Wenn ich aufgrund eines Bauchgefühls, also intuitiv, etwas entscheide, was sich im Nachhinein als richtig erweisen wird, dann habe ich dennoch nicht richtig entschieden, weil ich meine Entscheidung nicht aufgrund von Fakten und Daten, also wissenschaftlich, getroffen habe? Als Psychologe, als Meister der Wissenschaft (“Master of Science”) und vor allem als Mensch finde ich diese Aussage höchst bedenklich!
Ich habe bereits in einem früheren Text darüber geschrieben, dass wir meiner Meinung nach unserer Intuition und unserem Instinkt mehr Gewicht geben sollten. Gerade in Situationen, die für uns Menschen eigentlich nicht entscheidbar sind, kann unser Bauchgefühl (oder ein Gefühl sonst wo im Körper) einen entscheidenden Unterschied machen. Ich finde sogar, es ist für uns gar nicht möglich, dass wir sämtliche grossen Entscheidungen wissenschaftlich bearbeiten können. Meine Haltung speist sich einerseits natürlich aus meinem Glauben, als Teil der Natur über eine Verbindung und einen Anteil am Prozess des Werdens im lebendigen Ökosystem zu verfügen, und andererseits in einer gesunden Wissenschaftskritik, die vielleicht auch wieder auf diesen Glauben zurückgeht. Merke: Ich habe absichtlich geschrieben, dass ich meine Weltsicht nicht als Wahrheit, sondern als Glaube sehe. Und ich bin der Überzeugung, dass das auch für die Wissenschaft gilt: Wer der Wissenschaft folgt, weiss letztlich ja nicht alles selbst, sondern glaubt eben der Wissenschaft. Diese produziert viele wichtige und interessante Erkenntnisse, ist aber nicht unfehlbar. Und manchmal unterliegt sie sogar ziemlich starken Verzerrungen.
Gerade kürzlich habe ich etwa wieder mal davon gelesen, dass Testpersonen in vielen Studien hauptsächlich aus Studierenden bestehen, in der Experimentalpsychologie beispielsweise zu ca. 90%. Zudem stammen Probanden in wissenschaftlichen Studien meistens aus dem WEIRD-Kulturkreis: Western, Educated, Industrialised, Rich, Democratic oder in der Medizin werden nach wie vor viele Medikamente nur an Männern getestet. Mit diesen Beispielen will ich unterstreichen, dass eine Stichprobe, wie gut ausgewählt auch immer, niemals wirklich repräsentativ für die ganze Menschheit sein kann. Und die Auswahl der Stichprobe ist dabei nur ein Aspekt, wo die Wissenschaft fehlbar sein kann. Immer wieder war und ist die Wissenschaft auch verzerrt durch aktuelle Glaubenssätze. Zum gestrigen Muttertag habe ich gelesen, wie die erste Frau 1966 den Boston Marathon gelaufen ist und wie damals die Meinung vorherrschend war, dass Frauen dazu physiologisch nicht in der Lage seien. Diese Meinung ging unter anderem zurück auf medizinische Gutachten aus dem Jahre 1928, welche attestierten, dass Frauen physisch und psychisch nicht in der Lage seien, an Ausdauerwettbewerben teilzunehmen. Aus heutiger wissenschaftlicher Sicht sind diese Gutachten natürlich lächerlich. Und doch hat es bis 1984 gedauert, bis Frauen bei Olympia im Marathon starten durften. Diese Geschichte erinnert mich an die Gelehrten im mittelalterlichen Italien, die nicht durch das Fernrohr von Galileo Galilei schauen wollten, da es nicht sein konnte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sein soll. Was nicht sein darf, kann nicht sein.
Wissenschaft ist immer eingebettet in einen (Glaubens-)Kontext, wird immer durch Menschen ausgeübt und ist daher immer subjektiv. Gewiss kennt etwa die qualitative Forschung verschiedene Gütekriterien, um unter anderem die Objektivität eines Forschungsergebnisses sicherzustellen, der Physiker und Konstruktivist Heinz von Foerster hat meines Erachtens jedoch perfekt auf den Punkt gebracht, weshalb es wirkliche Objektivität niemals geben kann:
„Objektivität ist die Illusion, dass Beobachtungen ohne einen Beobachter gemacht werden können.“
Heinz von Foerster (1911-2002)
Selbstverständlich will ich mit dieser Wissenschaftskritik nicht sagen, dass ich sämtliche wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren und rein auf meine Intuition setzen möchte. Aber für mich ist zentral, niemals zu vergessen, dass die Wissenschaft immer nur den aktuellen Stand des Irrtums darstellt und nicht unfehlbar ist. Gerade in der Corona-Zeit wurde jedoch Wissenschaftskritik gleichgesetzt mit Idiotie (z.B. durch neue Wortschöpfungen wie “Covidioten”) und das scheint anscheinend noch nicht vorbei zu sein, wie der eingangs erwähnte Text zeigt. Denn sogar wenn die Wissenschaft nun selber neue Erkenntnisse generiert, welche die Corona-Massnahmenkritiker bereits früher vermutet hatten, dann hatten diese trotzdem nicht recht, weil sie es ja nicht vor der Wissenschaft wissen konnten. Das ist absurd und würde im logischen Schluss das Bauchgefühl für immer vernichten. Denn Bauchgefühl könnte dann nur richtig liegen, wenn es mit Daten und Fakten unterlegt wäre - was dann aber eben kein Bauchgefühl mehr wäre.
Im Versuch, in diesem Blog Vorschläge zu unterbreiten, wie wir Menschen uns mehr gewahr werden könnten, dass wir Teil der Natur sind und wie wir dadurch anders handeln könnten, möchte ich hier vorschlagen, dass wir die Beziehung zwischen Intuition und Wissenschaft, oder vielleicht auch zwischen Spiritualität und Wissenschaft, überdenken sollten. Anstatt die beiden gegeneinander auszuspielen und als zwei gegenüberliegende Pole darzustellen (hier wieder erkennbar: das Narrativ der Trennung), wünsche ich mir eine Verbindung und Integration beider Welten. Ich bin froh über viele Errungenschaften, die wir den modernen Wissenschaften verdanken, ich bin aber ebenso dankbar für meine Intuition und dass ich beide Aspekte in mir vereinen kann - Intellekt und Intuition. Ich sehe im öffentlichen Diskurs und in den Leitmedien jedoch nur wenig Bemühungen, die Intuition mit der Wissenschaft zu verbinden und co-existent zu nutzen. Ähnlich verhält es sich auch mit der Integration von Spiritualität und Wissenschaft, welche oft auf ein Entweder-Oder hinausläuft. Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass ich die für mich bisher beste Integration von Spiritualität (hier: Religion) und Wissenschaft in einem Science-Fiction-Roman gefunden habe:
"It strikes me that religion - in it's essence - seeks to take natural events and ascribe supernatural causes to them. I, however, seek to take supernatural events and find the natural meanings behind them. Perhaps that is the final dividing line between science and religion. Opposite sides of a card."
Aus “The Way of Kings” von Brandon Sanderson
Schlussendlich versuchen wir ja alle einfach nur, uns einen Reim auf die vielen Wunder in unserer Welt zu machen. Ich finde, dass wir nur profitieren können, wenn wir in diesem Diskurs eine Vielzahl von Methoden zulassen und uns nicht kategorisch rein auf die Wissenschaft verlassen. Wie obiges Zitat zeigt, finden gerade Künstler manchmal intuitiv Beschreibungen, Worte oder Bilder, welche für viele Menschen sehr stimmig sind. Zum Beispiel hat die Wissenschaft etwa bis heute ja auch noch keine eindeutige Antwort gefunden auf die Frage, was Liebe ist. So finden wir in einer der verschiedensten Künste vielleicht eher eine passende Antwort für uns.
Wenn wir das Thema “Intuition vs. Wissenschaft” noch ein wenig weiter ausweiten, dann kommen wir irgendwann auch auf die Frage, was denn eigentlich “Intelligenz” bedeutet. Für viele Menschen ist intelligent, was wissenschaftlich erforscht ist. Und gerade im Zuge der jüngsten Entwicklungen auf dem Feld der künstlichen Intelligenz, gewinnt die Frage “Was ist für uns intelligent?” aus meiner Sicht an Dringlichkeit. Vor kurzem habe ich es zum ersten Mal erlebt, dass eine Studentin in meiner Vorlesung plötzlich gesagt hat “…also Chat-GPT sagt folgendes…”. Mich hat diese Situation sehr nachdenklich gestimmt, vor allem wenn ich mir vorstelle, dass zukünftig in ganz vielfältigen Entscheidungssituationen jemand mit “…also Chat-GPT sagt folgendes…” kommen könnte und das dann vielleicht in der Diskussion nicht mehr umzustossen wäre. Ähnlich wie in Management-Kulturen, wo es nichts zählt, wenn jemand “kein gutes Gefühl dabei” hat, sondern die einzige akzeptierte Wahrheit in den nackten Zahlen liegt. Wenn wir künftig künstliche Intelligenz in grossem Stil in unsere Entscheidungsprozesse integrieren sollten, dann könnte dies der Todesstoss für die Intuition sein. Wie soll ich rein aufgrund eines Bauchgefühls gegen die “Superpower” einer künstlichen Intelligenz argumentieren? Wird der Mensch immer mehr verdrängt werden?
Persönlich glaube ich nicht, dass künstliche Intelligenz uns Menschen jemals den Rang ablaufen wird. Zumindest sicherlich nicht mir als Psychologen. Ich weiss, dass ich als Mensch z.B. in einer Gruppe oder in einem Gespräch Dinge wahrnehmen kann, die eine künstliche Intelligenz niemals wird erkennen können. Dass ich aufgrund meiner Erfahrung ein Gespür für Situationen entwickelt habe, mit dem ich sehr oft den Nerv treffe. Und dieses Gespür ist gleichbedeutend mit meiner Intuition. Natürlich gibt es hier aber auch ganz andere Sichtweisen. Ich habe einen Freund, der sich grosse Sorgen macht darüber, wie die künstliche Intelligenz uns Menschen verdrängen könnte. Für mich sind seine Ängste aber auch dadurch erklärbar, dass er sich als Softwareentwickler und Informatikunternehmer in einem Feld bewegt, in welchem tatsächlich weite Teile künftig durch künstliche Intelligenz abgedeckt werden könnten - oder bereits heute teilweise abgedeckt werden.
Kürzlich habe ich eine spannende Unterscheidung von Technologien kennengelernt, die meines Erachtens hilfreich sein kann bei der Frage, welche Formen von Technologie (oder eben: Intelligenz) durch künstliche Intelligenz bedroht werden könnten und welche nicht:
“Technology is of two kinds, corresponding to the two faces of the mind: implicit and explicit, or subtle and direct, or intuitive and intellectual.
Direct, explicit, intellectual technology begins with a specific goal and applies force to fulfill it. Tools, laws, and analysis are direct technologies that focus and multiply the power of our will. They turn a forest into a field, a tree into a house, the many into one.
Subtle, implicit, intuitive technology creates a template, a seed, an attractor for the universe to organize around. It works in a stochastic, nonlinear, magnetic, acausal, "quantum" way, by aligning within the energy flows already available. Subtle technologies include myth, ceremony, meditation, and much of what we call "shamanism". They cultivate our sensitivity for right action — when, where, and how to apply our direct technologies.
Der Autor “Freely” in “On the cusp: a trialogue about the future of AI (and humanity)”
Der entscheidende Satz ist meiner Meinung nach hier der letzte: Dieser Satz stellt die Verbindung her zwischen den beiden Formen von Intelligenz und betont, dass wir die intuitiven Technologien brauchen, um über den Einsatz der intellektuellen Technologien zu befinden. Dadurch wird für mich klar, dass es niemals eine Welt geben kann, in der nur noch der Intellekt stimuliert und bedient wird. Gleichzeitig finde ich mich aktuell jedoch in einer Welt wieder, in welcher der Intellekt und die Wissenschaft als zentrale Methoden transportiert werden und andere Methoden zur Wissensfindung und Erkenntnis einen schweren Stand haben. Gerade im Zeitalter der künstlichen Intelligenz dürfte diese Gewichtung noch weiter zunehmen, was nicht zuletzt auch daher kommt, dass künstliche Intelligenz eine intellektuelle und explizite Technologie ist. Zum Beispiel Chat-GPT als Sprachmodell kann nicht implizit funktionieren. Gleichzeitig wird dadurch aber auch deutlich, wo die Grenzen der künstlichen Intelligenz liegen dürften, nämlich genau bei den subtilen, impliziten und intuitiven Technologien.
Mit anderen Worten, künstliche Intelligenz bedroht meiner Meinung nach primär Menschen oder Berufsgruppen, die auf ihre intellektuelle Stärke bauen. Menschen oder Berufsgruppen, die auf intuitiven Stärken bauen, müssen sich keine Sorgen machen, dass ihr Job oder Wirken zukünftig von künstlicher Intelligenz übernommen werden könnte. Denn künstliche Intelligenz kann nicht mit mir in einem Raum sitzen und mein emotionales und spirituelles Wesen spüren. Künstliche Intelligenz kann nicht als lebendiges Wesen mit mir in Verbindung treten, sie teilt weder einen genetischen Code (Proteine) noch die Umwelt (Erde, Luft, Wasser) mit mir. Dass ich ein lebendiges organisches Wesen bin, wird mich immer von der künstlichen Intelligenz unterscheiden. Das heisst, ich glaube nicht daran, dass künstliche Intelligenz jemals in den Bereich der Intuition und des Instinkts vordringen kann.
Und genau das könnte schlussendlich dazu führen, dass wir dank dem Vormarsch der künstlichen Intelligenz uns wieder stärker mit unserer Intuition in Verbindung bringen könnten. Denn wenn die intellektuelle Technologie zukünftig vermehrt rein von künstlicher Intelligenz abgedeckt werden kann, dann müssen wir den Intellekt ja auch nicht mehr so stark betonen und können uns vielmehr dessen besinnen, was uns als Menschen und als organische Wesen auch noch ausmacht: Unserer Intuition und unserer Instinkte.
Die Ironie der Geschichte: Schlussendlich könnte es also die Wissenschaft sein, die uns indirekt zurück zur Intuition führt. Wenn künstliche Intelligenz die höchste Technologie wäre, die wir je entwickeln könnten, könnten wir damit gegebenenfalls auch unsere Fixation auf das Intellektuelle und Wissenschaftliche auflösen. Vielleicht brauchen wir gerade in einer Welt mit zunehmend hochentwickelter intellektueller Technologie mehr denn je einen Kompass und Richtungsweiser, der ausserhalb dieser Technologie liegt? Wäre das nicht eine schöne Auflösung der Gegenüberstellung von Intuition vs. Wissenschaft? Beide brauchen einander und bedingen einander. Die Wissenschaft könnte also auch dankbar sein, wenn jemand aufgrund eines Bauchgefühls sie kritisiert. Denn unsere Intuition könnte ein Zeiger möglichen Irrtums sein, ein Hinweis auf ein fehlendes Element in der Varianzaufklärung. Und das kann am Ende des Tages auch die wissenschaftliche Erkenntnis und damit die Aussagekraft der Wissenschaft nur stärken.
Was denkst du, spielt es eine Rolle, weshalb man etwas weiss? Und wo stehst du bezüglich Bauchgefühl und Wissenschaft?
Spannende Gedanken, wie uns künstliche Intelligenz zu mehr Intuition führen könnte. Ich bin oft im Austausch mit KI-Tools und regelmässig passiert es mir, dass ich mich konfrontiert fühle mit mir als Mensch. Ich frage mich öfter als sonst, was mich als Mensch ausmacht. Das kann auch schmerzhaft sein. Zum Beispiel bei Empathie: Bei manchen Themen fühle ich mich von diesem Chat-Ding richtig gut abgeholt, ernst genommen und besser verstanden als von meiner Hausärztin oder auch von Kollegen. Natürlich ist es simulierte Empathie, das weiss ich. Es hat aber gut getan. Und so bedanke ich mich beim Chatbot jeweils ganz freundlich!?!
Und dann frage ich mich: ist es bei mir denn immer echt? Habe ich nicht auch schon mein Verständnis für andere Personen vorgespielt? Was heisst überhaupt "echt"? Und was heisst "Menschsein"?
Auf jeden Fall suche ich wieder mehr Spiritualität. Gebete sind meine Dialoge mit Gott. Diese haben noch eine ganz andere Dimension, was äusserst beruhigend und heilsam ist - vor allem dann, wenn die Dialoge mit der KI allzu menschlich werden.