Neue Formen für unsere Demokratie
Weshalb unser Parlamentsbetrieb von Kreispraktiken und "Art of Hosting" profitieren könnte.

Nach meinem letzten Text über Peacemaking Circles habe ich mir weitere Gedanken über das Kreisprinzip gemacht. Ich finde es spannend, darüber nachzudenken, wie der Kreis im Vergleich zu aktuell stark gelebten Formen wie Rechtecken oder Dreiecken wirken könnten. Mit der Form ist immer eine Haltung verbunden und eine andere Anordnung der Stühle schafft nicht automatisch diese Haltung. Es ist jedoch umgekehrt sehr schwer, einander auf Augenhöhe zu begegnen und partizipativ zu arbeiten, wenn die Stühle um einen grossen rechteckigen Besprechungstisch angeordnet sind. Oder noch “schlimmer”: In einer Konzertbestuhlung, wo vorne eine Person spricht, die alles gut überblicken kann, während alle anderen nur die Rednerin und ganz viele Hinterköpfe sehen können. Aus meiner Erfahrung als Organisationsberater weiss ich, dass sich Menschen plötzlich anders begegnen können, wenn sie sich in einem Kreis begegnen. Die Kreisform führt nicht zwangsläufig zu mehr Verbundenheit - aber mehr Empathie ist meiner Meinung nach eher möglich als in einer klassischen Konzertbestuhlung oder um einen rechteckigen Sitzungstisch sitzend.
Als ich 2015 begonnen habe, mich intensiver mit Kreisformen wie Holacracy, Soziokratie oder sogenannten Teal Organizations (“Reinventing Organizations”) zu beschäftigen, hat sich mein Blick durch die “Kreis-Brille” bald auch auf die Gesellschaft und gesellschaftliche Institutionen gerichtet. Wie wird hier zusammengearbeitet und was könnte z.B. die Politik von diesen neuen Organisationsformen und neuen Formen der Zusammenarbeit lernen? Mein Eindruck ist, dass die Art und Weise, wie unsere Parlamentsgebäude architektonisch gestaltet sind, für gemeinsame Lösungsfindung nicht unbedingt zielführend ist. Die Architektur in den Parlamenten ist eher auf Konfrontation und Debatte ausgerichtet, statt auf Empathie und Dialog. Das Muster im grossen Saal ist primär folgendes: Eine Person tritt nach vorne ans Mikrofon und trägt ihre vorbereitete Rede vor, während alle anderen Personen in einem Auditorium sitzen und zuhören. Sobald eine Rednerin fertig ist, tritt die nächste Person nach vorne und trägt ihre Parolen vor. So geht das weiter bis zum Zeitpunkt einer allfälligen Abstimmung. Zwischenfragen sind dabei nur erlaubt, wenn der Redner dies auf entsprechende Anfrage hin zulässt (siehe Geschäftsreglement des Nationalrats). Wenn eine Organisation mich für Beratung und Moderation anfragt, damit sie gemeinsam eine gute Lösung erarbeiten können, die in der Umsetzung auch von möglichst allen getragen wird, dann würde ich nie auf die Idee kommen, dieses Muster aus dem Parlament zu inszenieren: Alle Sitzen in den Reihen, eine Person nach der anderen kommt nach vorne und hält ihre Rede, und am Schluss wird abgestimmt. Ist das wirklich noch zeitgemäss?
Die häufigsten Formen in den Parlamenten
Parlamente sehen weltweit seit Jahrhunderten praktisch gleich aus. Im Mai 2023 erschien zu diesem Thema ein interessanter Artikel in der NZZ am Sonntag. Berichtet wurde über die Studie eines niederländischen Architekturbüros, in welcher die Parlamentsgebäude aller 193 Mitgliedstaaten der Uno untersucht und schematisch dargestellt wurden. Die wesentlichen Ergebnisse: Die Parlamente in autoritären Staaten ähneln einem Klassenzimmer, die Mehrzahl der Parlamente trifft sich jedoch in einem Halbrund. Diese Form hat sich nach der Französischen Revolution durchgesetzt und wurde auch im Jahr 1902 erbauten Parlamentsgebäude der Schweiz eingerichtet. Vor dem Halbkreis dominierte in vielen Staaten das Rechteck die Sitzordnung: Vorne der Monarch, auf den Seiten der Adel und der Klerus. Im Vereinigten Königreich ist die Form des Rechtecks geblieben, heute stehen sich hier jedoch die Regierung und die Opposition gegenüber. In weiteren Staaten des Commonwealth wurde aus dem Rechteck eine Art Hufeisen, welches die britische Sitzordnung mit der Halbkreisform verbindet.

Auch der Kreis findet sich in den Sitzordnungen der untersuchten Parlamente. Als erfolgreich dargestellt wird etwa das kreisförmige Parlament in Liechtenstein, ein weniger erfolgreiches Beispiel stellte 1992 das neugestaltete deutsche Bundeshaus in Bonn dar. Die Kreisform konnte hier nicht überzeugen, da zugleich an einer Rednertribüne festgehalten wurde und die Redner von manchen Plätzen aus praktisch nicht sichtbar waren. Der Kreis wird in der Studie also kritisch dargestellt und kommt auch nur in sehr wenigen Parlamenten weltweit vor. Im erwähnten Artikel der NZZ am Sonntag bezeichnet ein Politikwissenschaftler die Kreisform als “Politkitsch”, ein Staatsrechtler ergänzt, eine Kreisform könne eine “verschworene Selbstbezüglichkeit der Beteiligten suggerieren”. Das Argument der Selbstbezüglichkeit kann ich nachvollziehen, jedoch offenbart sich meiner Meinung nach hier nicht die Limitierung der Kreisform an sich, sondern deren mangelhafte Inszenierung. Oder mit anderen Worten: die wichtige Bedeutung der Kreismitte. Wie ich in meinem letzten Text geschrieben habe, ist die Inszenierung einer stimmigen Kreismitte essenziell für das Gelingen der Kreispraktik. Dass eine leere Kreismitte oder gar ein in der Mitte platziertes Rednerpult Selbstbezüglichkeit fördern könnte, kann ich nachvollziehen. Stattdessen müsste meiner Meinung nach in der Kreismitte symbolisch das Land oder das Volk stehen, welchem das Parlament dient. Denn das Potential kann in einem Kreis erst dann wirklich genutzt werden, wenn in die Kreismitte gesprochen wird - und diese eben auch symbolisch gehalten wird. Leider fehlt in der Studie des niederländischen Architekturbüros der Bezug zur Kreispraktik in indigener Tradition. Dabei wird eigentlich erwähnt, dass die Kreisform auf das isländische “Althing” aus dem 10. Jahrhundert zurück geht, also auf das älteste Parlament eines heute noch existierenden unabhängigen Staates weltweit.

Moderne Parlamente brauchen flexible Formen
Trotz dessen, dass die Architekten die Logik der Kreisform meiner Meinung nach nicht korrekt erfassen, kommen sie zu einem interessanten Schluss: Moderne Parlamente brauchen flexible Settings. Meine Gedanken gehen in die gleiche Richtung. Das Parlament könnte als offener Raum gestaltet werden, in welchem je nach Bedürfnis verschiedene räumliche Settings inszeniert werden könnten, alle aufbauend auf dem Kreisprinzip. Denn für mich ist bei meiner Arbeit im Kreis von zentraler Bedeutung, dass wir das Setting je nach Bedarf flexibel verändern können. Das heisst, dass ich mir bei der Gestaltung eines Drehbuchs für einen Workshop sehr genau überlege, welches Setting das jeweils gewünschte Ergebnis einer Workshop-Sequenz optimal unterstützen könnte. Daher arbeite ich am liebsten in einem Setting ohne Tische: Ausgehend von einem plenaren Stuhlkreis lässt sich so auch eine grosse Gruppe in wenigen Minuten in viele verschiedene Kleingruppen aufteilen und danach wieder im Plenum versammeln. Auf die Arbeit im Parlament übertragen, könnte dies bedeuten, dass es aus meiner Sicht sehr wohl Momente geben kann, in denen alle einer Rednerin zuhören, danach könnte die grosse Gruppe aber in verschiedene Kleingruppen aufgeteilt werden, welche gleichzeitig an der vorliegenden Fragestellung arbeiten. Die Form würde damit nicht starr einem fixen Kreis ähneln, sondern könnte sich auch als Netzwerk aus verschiedenen kleineren Kreisen zeigen, die sich flexibel miteinander verbinden lassen.
„Erst formen wir unsere Gebäude, und dann formen die Gebäude uns.“
Winston Churchill (1874-1965)
Die Kunst, gute Gespräche zu ermöglichen
In der Organisationsentwicklung sind solche flexiblen Kreis-Settings in Grossgruppenmethoden wie World Café oder Open Space längst “state of the art”. Die Arbeit mit Grossgruppen (ab 30 bis mehrere hundert Personen) zeichnet sich generell dadurch aus, dass das Plenum auf viele gleichzeitig stattfindende Kleingruppen (ca. 5 bis 7 Personen) aufgeteilt wird, wobei die Mitglieder von der Moderation nicht gesteuert, sondern anhand klarer Regeln zur Selbststeuerung eingeladen werden. Unter dem Begriff “Art of Hosting” werden diese Grossgruppen- und Kreismethoden international kultiviert und auch in der Schweiz vermittelt. “Art of Hosting” steht für die “Kunst, gute Gespräche zu ermöglichen” oder in anderen Worten, ein guter Gastgeber zu sein. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass das bewusste Gestalten des physischen Raums nur ein Aspekt guter Gespräche ist. Genauso wichtig - oder vielleicht sogar noch wichtiger - ist die Rolle der Moderation, welche sich bewusst im Umgang damit übt, wie in einer Gruppe eine gute Verbindung und gemeinsame Lösungsfindung entstehen kann. Diese Qualität in der Moderation wird oft als “Halten des Raumes” bezeichnet. Damit wird der nicht-physische Raum gestaltet: der Möglichkeitsraum, eine ergebnisoffene Kultur, ein verurteilungsfreier Raum, in welchem gemeinsam Neues entstehen kann. Meine Erfahrung zeigt mir, dass es sehr viel mit meiner persönlichen Absicht und Aufmerksamkeit als Moderator zu tun hat, ob es einer Gruppe gelingt, in diesen ergebnisoffenen, kreativen Möglichkeitsraum einzutreten. Daher wird im Zusammenhang mit der Kreispraktik oftmals auch gar nicht von “Moderator” gesprochen, sondern von Hüter oder eben: Gastgeber.
Wo der eigentliche Dialog stattfinden könnte: Die Arbeit in den Kommissionen
Weshalb wird nun, was in der Organisationsentwicklung so gut funktioniert, nicht auch für die Entwicklung unseres Politiksystems herangezogen? Ein möglicher Einwand auf meine These, dass unser Parlament anders gestaltet und moderiert werden müsste, könnte sein, dass die politische Meinungsbildung in der Schweiz gar nicht in der Session, also nicht im Parlament stattfindet, sondern dass der eigentliche Dialog in den Kommissionen geführt wird. Um dies zu prüfen und die Kommissionsarbeit besser zu verstehen, habe ich mir den Dokumentarfilm „Mais im Bundeshuus“ angeschaut. In diesem Film wird die Arbeit derjenigen Kommission begleitet, die für die Erarbeitung eines neuen Gesetzes zur Gentechnik zuständig war. Der Film ist bereits über 20 Jahre alt und wirkt teilweise auch wie aus einer anderen Zeit: auf dem Berner Bundesplatz parkieren noch Autos, in den Gängen des Bundeshauses wird noch geraucht. Vieles hat sich seither in Bern geändert, aber ich vermute, dass in den Kommissionen immer noch praktisch gleich gearbeitet wird wie damals: 25 Personen sitzen um einen langen, rechteckigen Tisch, debattieren stundenlang und am Schluss wird ein Vorschlag vielleicht mit 13 zu 12 Stimmen angenommen. Der Dokumentarfilm „Inside Bundeshuus“ aus dem Jahre 2017 legt nahe, dass meine Vermutung zutrifft. In den Kommissionen wird heute immer noch genau gleich gearbeitet wird wie vor 20 Jahren. Erneut beschäftigt mich dieselbe Frage wie oben: Ist das wirklich noch zeitgemäss?
Die (fehlende) Moderation der Kommissionssitzungen
Die Arbeit der Kommissionen ist geheim und kann folglich nicht beobachtet werden. Was ich hinter den verschlossenen Türen in „Mais im Bundeshuus“ und „Inside Bundeshaus“ erahne: Es gibt keine neutrale, unabhängige, ergebnisoffene Moderation, sondern moderiert wird anhand eines fixen Protokolls und je nach Tagesform der Sitzungsleitung. In „Mais im Bundeshuus“ erzählt ein Kommissionsmitglied freimütig, dass sie heute den “Filibuster” hätten mimen müssen. Sprich: Da sie wussten, dass sie aufgrund von Abwesenheiten die heutigen Abstimmungen in der Kommission verlieren würden, haben sie einfach unnötig lange weitergesprochen, um so die Zeit verstreichen zu lassen, damit keine weiteren Abstimmungen mehr stattfinden können. Weshalb ist ein solches Taktieren überhaupt möglich? Fehlt hier nicht die Kunst, gute Gespräche zu ermöglichen? Ich stelle mir vor, dass eine geschulte Moderatorin da längst eingeschritten wäre und sichergestellt hätte, dass die Redebeiträge ausgeglichen und beim Thema bleiben.
Die Türen zu den Kommissionszimmern bleiben jedoch nicht in jedem Film verschlossen, wie ich dann später herausgefunden habe. Vom Parlamentsdienst wurden die beiden Filme “Zimmer 286” (aus dem Jahre 2015) sowie “Zimmer 287” (erschienen 2023) veröffentlicht, die einen seltenen Einblick in die Kommissionsarbeit gewähren. Entsprechend meiner These zur Gestaltung des physischen und nicht-physischen Raumes (“Halten des Raumes”), interessiert mich hier natürlich vor allem die Sitzordnung und die Moderation der Kommissionssitzungen. Ich erfahre, dass die Kommissionen von der jeweiligen Kommissionspräsidentin geleitet werden, welche für jeweils zwei Jahre gewählt wird. Der Kommissionspräsident ist quasi “Herr über die Traktandenliste” und kann innerhalb der gesetzlichen Fristen selbst entscheiden, wann welches Geschäft traktandiert wird. Unterstützt wird das Präsidium von einem Kommissionssekretariat, welches bei der Gesamtplanung hilft, Dokumente vorbereitet und auch das Protokoll erstellt. Die im Film “Zimmer 287” dargestellte nationalrätlichen Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen (KVN-F) wird von Jon Pult (SP) präsidiert, im “Zimmer 286” ist der damals noch als Nationalrat amtierende Guy Parmelin (SVP) als Präsident der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) zu sehen. Beides also gestandene Politiker und bekannte Persönlichkeiten. Nur kann ich mir leider nicht vorstellen, dass ihre eigene politische Position die Leitung der Kommissionssitzungen nicht beeinflusst. Von einer unabhängigen und ergebnisoffenen Moderation kann wahrscheinlich nicht die Rede sein. Die Kommissionspräsidenten sind wohl kaum ausgebildet im Moderieren von Gruppenprozessen und haben von “Art of Hosting” vermutlich noch nie etwas gehört.
Die (Nicht-)Gestaltung der Kommissionszimmer
Die Moderation der Kommissionen könnte meiner nach also durch eine unabhängige und erfahrene “Gastgeberin” verbessert werden. Mein Eindruck ist, dass der nicht-physische Raum kaum gehalten wird. Wie steht es denn um die physische Gestaltung des Raumes in den Kommissionszimmern? Die Bilder der beiden erwähnten Filme vom Parlamentsdienst zeigen folgendes:
Alle sitzen in einer U-Form an drei grossen Tischen, mit Laptops und viel Papier auf den Tischen.
Die U-Form ist auch innen bestuhlt. Das heisst, es können sich nicht alle sehen und es gibt Sitzplätze, die mehr Übersicht bieten als andere.
Der Präsident sitzt vorne in der Mitte, rechts von ihm der zuständige Bundesrat, links das Kommissionssekretariat.
Die Distanzen im Raum sind relativ gross, daher gibt es an jedem Platz ein Tischmikrofon. Simultanübersetzung oder Audioaufnahmen gibt es keine, die Mikrofone dienen also lediglich der Verstärkung der Stimme.
Die Menschen schauen sich selten an, die meisten haben ihren Blick auf die Unterlagen oder ihren Laptop gerichtet.

Dies ist ein Setting, auf welches ich mich als Moderator mit einer Gruppe von 25 Personen nicht einlassen würde. Für mich müssten da zuerst die Tische raus, die Laptops weg und dann würden wir in einem Stuhlkreis mit dem Dialog beginnen. Das vorliegende Setting in der U-Form bietet aus meiner Sicht keine Möglichkeit, sich auf Augenhöhe zu begegnen, sich mit allen zu verbinden und sich auf ihre Perspektiven einzulassen. Entsprechend zeigt sich in den erwähnten Dokumentar-Filmen auch das Bild der Zusammenarbeit: Es wird im grossen Stil taktiert und gerechnet, damit am Ende die eigene Position gewinnen kann. Jede Partei kämpft für ihre eigene Position, versucht Allianzen zu schmieden und Verbündete zu finden. Es scheint teilweise gar, als passiere die wesentliche Arbeit ausserhalb der Sitzung: auf den Gängen, in „Geheimsitzungen“ und in persönlichen Gesprächen in den Pausen. Man sieht Menschen die wütend werden, Menschen die plötzlich aus Gesprächen davonlaufen. Das alles lässt bei mir den Eindruck entstehen, dass hier nicht gemeinsam die beste Lösung gesucht wird, sondern dass alle lediglich für ihre eigene Lösungsvariante kämpfen. Dieser Politikbetrieb als “Kampf” kennt zwangsläufig nur Gewinner und Verlierer, es findet immer eine Trennung in Gewinner und Verlierer statt.
Zu diesem aufreibenden und erschöpfenden Kampf um die Mehrheit der Stimmen passt auch die zeitliche Gestaltung der Kommissionsarbeit. Die Kommissionen tagen zwei Mal zwei Tage zwischen den Sessionen, wobei die Sitzungen den ganzen Tag dauern können. Manchmal gibt es auch open-end-Sitzungen, wenn ein Geschäft unbedingt noch abgeschlossen werden muss. Die Kommission SGK tagte zum Beispiel im 2012 und 2013 während 35 Tagen insgesamt 200 Stunden, das ergibt im Schnitt 5.7 Stunden pro Sitzung. Eine Frage an alle, die auch schon Mal in anstrengenden Sitzungen gesessen haben: Wie viel Gutes kann deiner Meinung nach in einer Sitzung nach fünf Stunden noch entstehen? Meist wird am Ende der Sitzungen, nach stundenlangen Debatten, noch abgestimmt. Können unter dieser Beanspruchung überhaupt noch gute Entscheide gefällt werden?
Welches Verhalten wird vom Parlamentsbetrieb gefördert?
Nebst der Kommissionsarbeit gewähren die erwähnten Dokumentar-Filme auch Einblicke in die Arbeit im Parlament. Die Limitierungen der Halbkreis-Form werden für mich hier ebenfalls sichtbar. Zum einen wird mir wieder einmal bewusst, wie die Parlamentarier in beiden Kammern mit ihren Parteikolleginnen und -kollegen zusammensitzen. Ist eine integrative Lösungsfindung überhaupt möglich, wenn man immer Seite an Seite mit seinen Kollegen „kämpft“? Könnte es sich nicht lohnen, einen Dialog mit Vertretern verschiedenster Fraktionen anzuregen (z.B. in einer World Café Diskussion)? Weiter fällt mir auf, dass bei vielen Rednern der Saal halb leer bleibt. Dies stützt die Ansicht, dass die Meinungen gar nicht im Parlament gemacht werden - viele hören den Rednern ja gar nicht zu. Aber wo sind denn all die Leute? Mehrmals sieht man in “Mais in Bundeshaus” Szenen, in denen Parlamentarier wie in einem wilden Haufen zurück in den Saal rennen. Zuerst verstehe ich gar nicht, was hier passiert, bis mir schliesslich klar wird, dass sie ihre Zeit draussen in der Wandelhalle am Telefon oder in persönlichen Gesprächen verbringen, während drinnen eigentlich der Ratsbetrieb läuft. Wie Schüler nach der Pausenglocke rennen sie dann plötzlich zurück in den Saal, um für die Abstimmung rechtzeitig wieder an ihrem Platz zu sein. Das sind irritierende Bilder, die ich mir so von unseren gewählten Politikern nicht vorgestellt hätte. Ich möchte hier den Personen aber gar nicht unbedingt direkt einen Vorwurf machen, sondern die Kritik vielmehr auf das System richten. In der systemischen Organisationsberatung gibt es die Ansicht, dass sich Menschen in der Regel “systemschlau” verhalten. Sie tun das, was das System von ihnen erfordert oder vom System gefördert wird. Das bedeutet, dass man daher eigentlich nicht versuchen sollte, die Menschen zu entwickeln, sondern vielmehr bei der Organisation ansetzen sollte, beim sozialen System.
Ein weiteres irritierendes Beispiel im Zusammenhang mit dem Parlamentsbetrieb, welches ebenfalls als “systemschlaues Verhalten” gelesen werden kann, habe ich am SDSN Assembly 2019 erlebt. SDSN steht für “Sustainable Development Switzerland Network” und es handelte sich hier um ein Jahrestreffen mit ca. 50 Personen aus dem Netzwerk. Auf dem Programm stand unter anderem eine Rede einer Nationalrätin, worauf ich sehr gespannt war. Die Art und Weise, wie sie dann aber in diesem relativ kleinen Saal zu den Leuten gesprochen hat, war für mich sehr irritierend. Nie hat sie Blickkontakt zu jemandem aus dem Publikum aufgenommen, ihr Blick verharrte starr leicht über den Köpfen hinten mittig im Raum. Auf mich wirkte das absurd, weshalb schaut sie die Leute nicht an? Es schien, als hätte sie das in einem Rhetorik-Seminar so gelernt, als sei dies ein Trick, um vor Leuten sprechen zu können. Aber weshalb spricht sie nicht mit den Leuten? Dass eine gewählte Parlamentarierin so vor die Menschen tritt, hat mich schockiert. Mein Erklärungsansatz: Die Nationalrätin verhält sich mit diesem Verhalten “systemschlau”, das bedeutet, dieses Verhalten passt zur Funktionsweise des Parlaments und wird dort (unbewusst) ausgebildet und gefördert. Gefördert wird hier nicht Verbindung, sondern Konfrontation. Natürlich gibt es im Nationalrat bei 200 Mitgliedern automatisch viele begabte und eben auch weniger begabte Redner. Es kann sein, dass jene Nationalrätin eher in die zweite Kategorie fiel und wahrscheinlich gibt es viele sehr gute Redner im Parlament. Dennoch war meine Verwunderung sehr gross. Von einer gewählten Parlamentarierin hätte ich mir mehr erwartet. Vielleicht hat aber eben nicht sie selber die Kritik verdient, sondern vielmehr die Gestaltung des Parlamentsbetriebs?
Mein Wunsch: Eine Politik in Verbundenheit
Mir ist bewusst, dass es nahezu unmöglich sein dürfte, eine Mehrheit für den Vorschlag zu finden, die Sitzungen sowohl in den Kommissionen als auch während der Sessionen ganz anders zu gestalten, geschweige denn das Bundeshaus architektonisch zu verändern. Mir ist auch bewusst, dass der Ratsbetrieb gut funktioniert, dass wir in einem gesunden demokratischen System leben und gerade auch die seit Jahrzehnten gleichbleibenden Abläufe für Stabilität und Prozesssicherheit sorgen. Es ist jedoch Teil meines Berufes als Organisationspsychologe, mir Gedanken darüber zu machen, wie wir menschliche Interaktion und Zusammenarbeit noch besser organisieren könnten. Aus meiner Erfahrung in über 10 Jahren in diesem Berufsfeld weiss ich, welche Rolle dabei die Gestaltung der physischen Räume spielt - und wie oft dies zu wenig berücksichtigt wird. Natürlich habe ich auch schon Sitzungen und Workshops moderiert, während alle an einem Tisch gesessen sind. Sobald es jedoch um gemeinsame Lösungsfindung geht und gerade wenn die Meinungen kontrovers, ja vielleicht sogar emotional aufgeladen sind, dann ist die Arbeit im Kreis für mich unabdingbar.
Ich will also nicht sagen, dass unsere Politiker keine guten Lösungen erarbeiten. Mein Punkt ist vielmehr, dass ich glaube, dass sie noch viel bessere Lösungen erarbeiten könnten, wenn sie anders zusammenarbeiten würden. Seit ich mich intensiver mit der “Story of Separation” auseinandersetze, stelle ich mir in einer gegebenen Situation immer wieder die Frage: Wird damit eher die Trennung weiter gefördert oder wird damit Verbundenheit, Empathie und Perspektivenübernahme ermöglicht? Ich stelle mir vor, dass viele mir beipflichten könnten bei meiner Einschätzung: Der Politikbetrieb ist mit seinem “Wir gegen die anderen” voll von Akten der Trennung.
Warum also nicht die Formen dahingehend weiterentwickeln, dass sie mehr Verbundenheit und damit noch bessere Lösungsfindungsprozesse ermöglichen?