Der bisher längste Text, aber vielleicht auch das bisher schwierigste Thema. Ich wiederhole mich in diesem Text wahrscheinlich zigfach, aber ich finde, man kann es nicht genug sagen: Krieg bringt keinen Frieden. Wir brauchen einen neuen Weg.

Vor mir liegt die erste Ausgabe der Luzerner Zeitung im neuen Jahr, es ist Mittwoch, 3. Januar 2024. Ein grosser Artikel auf Seite 1: „Massive Raketenangriffe auf Kiew“. Weiter geht es auf Seite 2 und 3, ein doppelseitiger Artikel: „Die Schwäche des Westen fördert Krieg“. Erst auf Seite 4 kommen die ersten positiven, optimistischeren Nachrichten („Wird im neuen Jahr alles besser?“).
Der Jahreswechsel ist seit jeher für viele Menschen eine Zeit, um nachzudenken, Bilanz zu ziehen, sich auszurichten, neue Vorsätze zu fassen und positiv in das neue Jahr zu starten. Ich stelle mir vor, dass dies auch für eine Zeitungsredaktion so sein könnte und dabei die erste Ausgabe im neuen Jahr einen speziellen Stellenwert hat, eine Chance bietet, positiv in das neue Jahr zu starten. Aber stattdessen: Krieg auf Seite 1, 2 und 3. Nun mögen einige einwerfen, dass die Welt zurzeit halt nicht so positiv ist. Und gewiss: Krieg ist etwas Furchtbares, vielleicht das Furchtbarste überhaupt in unserer Welt. Er zerstört nicht nur die Leben der direkt betroffenen, sondern auch der kommenden Generationen. Tod, Verlust, Trauma. Und das auf beiden Seiten. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir alle eine Wahl haben, dass Krieg nicht einfach eine zwangsläufige Folge im Zusammenleben der Menschen ist, sondern dass wir gemeinsam auch eine Welt gestalten könnten, die ohne Krieg auskommt. Klar, es ist ein weiter Weg. Aber ich glaube, wie Charles Eisenstein es formuliert hat, an die „More beautiful world our hearts know is possible“.
Krieg als logische Folge des Narrativs der Trennung
Diese schönere Welt beginnt meiner Meinung nach bei jedem Einzelnen von uns. Was wollen wir fördern, welche Story, welches Narrativ wollen wir füttern? Das Narrativ der Trennung („Story of Separation“), in dem Krieg unausweichlich ist, um die Trennung auszuführen und aufrecht zu erhalten, oder das Narrativ der Verbundenheit („Story of Interbeing“), in welchem jedes Leben einen unermesslichen Wert hat und Verbindung im Zentrum steht? Auch die Redaktion der Luzerner Zeitung kann sich jeden Tag neu entscheiden: Welches Narrativ wollen wir füttern? Schreckliche Kriege überall, bitte noch mehr Waffen, damit das Böse besiegt werden kann, oder aber: Es gibt schreckliche Kriege in dieser Welt, machen wir alle einen Schritt auf die andere Seite zu, starten wir den Prozess der Vergebung, damit das Sterben endlich aufhören kann.
Nicht zum ersten Mal höre ich beim Schreiben eine Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, wie naiv dass das doch alles sei. Die Welt ist halt nun mal schlecht, der Mensch ist halt nun mal böse und daher braucht es Krieg, braucht es Waffen, braucht es Tod. Es ist auch für mich immer noch ein Kampf, diese Stimme zu würdigen und dann zur Seite zu schieben und Platz zu machen für die Stimme, welche Trauer, Empathie und Vergebung ausdrücken kann. Wir haben es halt nicht anders gelernt, wir haben es immer wieder so erlebt und in den Nachrichten gehört: Es gibt böse Menschen, das Gute wird jedoch immer siegen, daher müssen wir alle kämpfen und der Krieg wird Frieden bringen. Frieden herrscht dann, wenn das Böse besiegt ist.
In mir hat sich jedoch in den letzten Jahren etwas grundlegend verändert, ich kann dieses Narrativ nicht mehr hören, ich glaube ihm nicht mehr. Ich ertrage es nicht mehr. Ich will in einer Welt leben, in der es keine bösen Menschen gibt, sondern nur Verletzungen, Trauma, schlechte Entscheidungen, entgleiste Lebenswege. Jemanden als böse zu bezeichnen, verschliesst sofort die Türe des Verständnisses, zerstört sofort jede Möglichkeit für Empathie. Wenn ich diese Beurteilung aber aufschiebe, kann ich Platz machen für eine empathische Reaktion. Und ich bin fest überzeugt: Frieden entsteht nicht durch Krieg, sondern durch Empathie. Und Vergebung.
Frei nach Tolstoi glaube ich daher nicht, dass es um „Krieg und Frieden“ geht, sondern um „Krieg oder Frieden“. Krieg bringt keinen Frieden. Bereits zu Zeiten des Vietnamkrieges stand auf Plakaten an Demonstrationen treffend: „Bombing for peace is like fucking for virginity“. Zerbomben für den Frieden macht keinen Sinn, denn wenn Bomben fallen, ist der Friede futsch. Erst wenn wir uns gegen Krieg entscheiden, kann Frieden entstehen. Wenn wir uns für den Frieden entscheiden. Und dazu gehört meiner Meinung nach das Heraustreten aus dem Dualismus von Gut und Böse, aufeinander zugehen, zuhören, verstehen wollen. Und verzeihen können.
Müssen Menschen sterben, damit Ideen weiterleben können?
Was ich mich immer wieder wundere: Weshalb verhalten wir uns auf der Ebene der Nationen so anders als in privaten Beziehungen von Mensch zu Mensch? Wenn zwei sich streiten, würde eine Paartherapeutin oder ein Mediator niemals Position beziehen, niemals eine Konfliktpartei dämonisieren. Konfliktlösung funktioniert nicht so. Doch wenn ein Streit zwischen zwei Nationen eskaliert, dann gibt es keine Therapeuten oder Mediatoren. Im Ukraine-Krieg haben wir unlängst erlebt, wie schnell die öffentliche Meinung und Energie auf die Unterstützung der Ukraine eingestellt war. Ein Freund von mir hat es damals sehr treffend formuliert: Wieso hängen jetzt in der Schweiz eigentlich überall Ukraine-Flaggen und nicht Peace-Flaggen? Ich vermisse schmerzlich einen echten Friedensprozess, der dem Töten Einhalt gebietet und einen Vermittlungsprozess, einen Heilungsprozess zwischen den Konfliktparteien initiiert. Statt Vermittlungsangebote schicken wir jedoch Waffen in die Kriegsgebiete. Versteht mich nicht falsch: Natürlich finde ich auch, dass ein Angegriffener sich verteidigen können muss. Aber wie lange soll das dauern? Und wie viele Menschen müssen dabei sterben? Kann man dann am Schluss jemals sagen, dass sich das gelohnt hat?
Bei solchen Fragen lande ich immer wieder bei John Lennon: „Imagine there‘s no countries“. Stell dir vor, es gibt keine Länder, keine Nationen. Nationen sind eine Erfindung, eine Idee von uns Menschen, so etwas gibt es in der Natur nicht. In den meisten Kriegen geht es um das Verteidigen von Grenzen, von Land, von Ressourcen. Wenn ich sehe, wie viele Menschen in diesen Kriegen sterben müssen, wie viele Menschen verletzt, verstümmelt oder traumatisiert werden, dann beschäftigt mich eine grosse Frage: Warum? Warum dieses Leid? Das Bewahren von Ideen und Traditionen scheint mehr wert zu sein als das Bewahren von Menschenleben. Im Nahost-Konflikt zeigt sich aktuell ein ähnliches Bild: Die Hamas fordert für die Freilassung der Geiseln eine Einstellung der Kampfhandlungen, Israel will dem aber nicht nachkommen. Weshalb nicht? Sie könnten damit nicht nur die Leben der Geiseln retten, sondern auch die Leben der israelischen Soldaten, die in diesem Krieg noch sterben werden - und natürlich auch die Leben der Palästinenser, sowohl Zivilisten als auch Angehörige der Hamas, die in diesem Krieg noch sterben werden. Denn auf beiden Seiten werden weiterhin Menschen sterben, wenn die Kämpfe weitergehen. Nochmal: Was ist wichtiger als das Retten von Menschenleben? Rache? Ein Gefühl von Sicherheit? Ein Gefühl von Freiheit? Oder eben: das Aufrechterhalten einer Idee? Ich will nicht sagen, dass wir nicht für unsere Ideale einstehen sollten, mitnichten. Aber zu welchem Preis? Müssen dafür wirklich so viele Menschen sterben? Muss es dafür wirklich Krieg geben?
Wir müssen aufhören, zurückzuschlagen
Vor ein paar Tagen gab es einen Streit zwischen meinen beiden Söhnen. Der kleine Tadeo ist ein Jahr und der Grössere, Yaro, drei Jahre alt. Offensichtlich hat Tadeo Yaro mit einem Plastikrohr auf den Kopf geschlagen. Für mich hat die Szene begonnen, als ich aus dem Spielzimmer Yaro sagen hörte: “Weil du mir auf den Kopf geschlagen hast, schlage ich dir jetzt auch auf den Kopf”. Kurz darauf weint Tadeo. Ich bin ins Spielzimmer gegangen, habe aber mit Yaro nicht geschimpft (sonst hätten dann beide geweint). Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass er sich auch anders hätte entscheiden können. Dass er sich auch dafür entscheiden kann, Tadeo nicht zurückzuschlagen, dass “Wie du mir, so ich dir” nicht unbedingt die beste Lösung ist und er sich auch für ein “Das war gar nicht nett und hat mir weh getan, aber ich werde jetzt bewusst nicht zurückschlagen, weil das die Situation nur noch schlimmer machen wird” entscheiden kann. Natürlich ist das für ein dreijähriges Kind wahrscheinlich noch ein wenig viel verlangt, aber meiner Meinung nach ist das der Weg, den wir global gehen müssten. Frieden entsteht nicht durch Zurückschlagen, sondern durch Pausieren und sich bewusst dafür zu entscheiden, jetzt nicht zurückzuschlagen.
Charles Eisenstein hat vor ein paar Wochen auf seinem Substack geschrieben: “(…) for there to be peace, people are going to have to stop doing what they think is justified” - damit Frieden einkehrt, müssen die Menschen aufhören, das zu tun, was sie für gerechtfertigt halten. Wir alle kennen solche Sätze, vielleicht hören wir die sogar in unserem eigenen Kopf: “Zurückschlagen ist doch gerechtfertigt, wenn der mich zuerst geschlagen hat”. Übertragen auf den Nahost-Konflikt könnten diese Sätze vielleicht lauten: “Israel hat das Recht, diese Terroristen zu zerstören” oder “Die Palästinenser haben ein Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die Unterdrückung”. Wenn wir jedoch unser Handeln danach ausrichten, was wir für gerechtfertigt halten, was in unseren Augen “richtig” ist, dann fördern wir damit nicht unbedingt Frieden. Ich will damit nicht sagen, dass Israel kein Recht hat, die Terroristen zu bekämpfen, aber ich glaube nicht, dass dadurch Frieden entsteht. Ich glaube, wir müssen den Zyklus der Gewalt stoppen, darauf verzichten, zu tun was wir für gerechtfertigt halten (z.B. Zurückschlagen, Rache, Vergeltung) und stattdessen pausieren, hinschauen, trauern - und beginnen zu vergeben.
Vergeben. Das sagt sich so leicht. Aus der geheizten Stube in der reichen Schweiz sowieso. Natürlich ist es ein langer Weg, ein sehr langer Weg, bis eine solche Reaktion möglich wird, dass z.B. eine Nation, wenn sie angegriffen wird, nicht zurückschlägt, sondern die Gewalt stoppt. Aber es ist nicht unmöglich. Wenige Tage nach dem Terrorangriff der Hamas kursierte ein Video einer israelischen Mutter, die bei den Angriffen der Hamas ihren Sohn verloren hat. Ihre starke Botschaft: “In my name, I want no vengeance” - in meinem Namen will ich keine Rache.
Wer entscheidet darüber, ob Rache stattfinden soll? Wenn eine Mutter sagt, sie will keine Rache für ihren Sohn, sie will, dass das Töten aufhört, dass nicht noch mehr Mütter ihre Söhne verlieren, wer kann dann etwas dagegen sagen? Haben wir die falschen Menschen gewählt, die unsere Nationen anführen? Müssten wir stattdessen Menschen wählen, die Vergebung üben können, so wie diese Mutter? Nochmal: Weshalb verhalten wir uns “als Nationen” so anders, als wir uns in persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen verhalten würden? Beginnt alles damit, dass der Ursprung jeder Nation eine Grenzziehung, also eine Abtrennung vom anderen ist?
Ich habe keine Antworten auf diese Fragen. Aber ich spüre tief in mir, dass wir so nicht weitermachen können. Krieg führt nicht zu Frieden. Wenn wir wollen, dass der Krieg aufhört, müssen wir aufhören, zurückzuschlagen. Oder wie es einmal hiess: Stell dir vor, es ist Krieg, und Keiner geht hin.
Wie das Töten vereinfacht wird
In einem Unterschlupf unweit der Frontlinie sitzen drei ukrainische Soldaten und machen mit ihren Drohnen Jagd auf russische Soldaten, russische Fahrzeuge. Wir sehen ein Bild des Drohnenpiloten, wie er mit einer Videobrille im Schneidersitz dasitzt und scheinbar entspannt „Russen tötet“. Direkt darunter sehen wir ein Bild aus der Videokamera der Drohne, im Visier ein russischer Militärlastwagen, der in wenigen Sekunden explodieren wird. Das Ganze erinnert an ein Videospiel, auch die Schilderungen im Text. Doch dies ist kein Spiel. Es ist Krieg. Hier werden Menschen getötet. Der Autor berichtet darüber in Sätzen wie diesen: „Jede (Drohne) kostet umgerechnet knapp 500 Franken. Trifft man damit Fahrzeuge oder Waffensysteme, die mehrere hunderttausend oder gar Millionen Franken wert sind, ist das ein gutes Geschäft.“ Wie bitte? Ein gutes Geschäft? Das Geschäft des Krieges, das Geschäft des Tötens. Aha.
Was ist da los? Weshalb veröffentlicht die Luzerner Zeitung einen solchen Artikel? Was sollen wir hier erfahren oder lernen? Wie einfach die Ukrainer Russen töten können? Wie die Ukrainer den Russen technologisch scheinbar überlegen sind? Ich lese darin, wie einfach das Töten sein kann. Im Schneidersitz dasitzen, mit einem Joystick in der Hand eine Drohne steuern. Wo liegt da noch der Unterschied zu all den jungen Männern, die zu Hause an ihren Computern Kriegsspiele spielen? Videospiele wie „Call of Duty“ werden seit Jahren immer realistischer und auch wenn ich nicht glaube, dass Videospiele die Gewaltbereitschaft fördern, ist es doch erschreckend, wie sich junge Menschen durch das Spielen solcher Videospiele an Kriegshandlungen gewöhnen, ja sie sogar verinnerlichen und um zu gewinnen: perfektionieren. Ich habe als Jugendlicher auch viel gespielt und nach einer langen Pause erst vor ein paar Jahren wieder begonnen, ab und zu Videospiele zu spielen. Ich finde es erschreckend, wie ich in praktisch allen der erfolgreichsten Videospielen (sog. Triple-A, also AAA-Spiele, welche meist über das grösste Produktions- und Marketingbudget verfügen) kämpfen muss, Gewehre und Pistolen bedienen, andere Menschen töten muss. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Videospiele zu suchen, in welchen ich nicht töten muss - und habe nur wenige gefunden. Zumeist sind es Indie-Spiele, also kleine Studios ohne grosse Budgets, welche Videospiele produzieren, die nicht einer kriegerischen Geschichte folgen. Lässt sich also nur mit dem Nachspielen von Mord und Krieg Geld verdienen?
Ich glaube nicht, dass es die Absicht der Videospielindustrie ist, dass sie die Verherrlichung von Krieg fördern will. Aber diese Industrie ist Teil eines grösseren Narrativs, welches erzählt vom Kampf zwischen Gut und Böse, dieser Vorstellung, dass es das Gute und das Böse gibt und dass beides nichts miteinander zu tun hat. Die Geschichte von Gut und Böse finden wir bereits zuhauf in Hollywood-Filmen, vor allem in den Action-Filmen der 1980er und 1990er Jahre. Die Videospielindustrie generiert heute so viel Umsatz, wie die Musik- und Filmindustrie zusammen, sie ist längst zur grössten Unterhaltungsindustrie geworden. Nicht nur daher haben Videospiele für das Gestalten unseres Zusammenlebens meiner Meinung nach einen grossen Einfluss, sondern auch weil vor allem jüngere Menschen Videospiele spielen und sich hier nicht nur passiv einer Geschichte aussetzen, sondern das Geschehen aktiv beeinflussen, Entscheidungen treffen und die Geschichte selber vorantreiben. Bei guten Videospielen ist häufig von hoher Immersion die Rede: Das Eintauchen, das sich verlieren in einer virtuellen Welt, das Verschmelzen der Wahrnehmung mit der virtuellen Realität. Und auch wenn Gangster- und Kriegsspielserien wie „Grand Theft Auto“ oder eben „Call of Duty“ die Verkaufsstatistiken anführen, könnten Videospiele genauso gut Perspektivenübernahme und Empathie fördern, statt den Kampf von Gut gegen Böse.
Mit dem Einsatz von Kampfdrohnen, welcher nicht erst mit dem Ukrainekrieg begann, beginnt nun langsam eine Verschmelzung der virtuellen Realität der Videospiele und der echten Realität des Krieges. Während die Soldaten in den beiden Weltkriegen noch unter Drogen gesetzt wurden, damit ihnen das Töten „leichter fiel“, „vereinfacht“ der Drohnenkrieg das Töten durch die physische und technologische Distanz. Dass es solche Massnahmen für die Kriegsführung braucht, ist klar. Denn ich bin überzeugt: Menschen wollen keine anderen Menschen töten. Damit diese von den Menschen also eigentlich unerwünschte Handlung des Tötens im Krieg dennoch vollzogen wird, braucht es Technologie, Drogen oder psychologische Tricks. Durch die Entmenschlichung des Gegners, in der Regel durch Horrorgeschichten wie Töten von Säuglingen oder Kindern, wird das Böse heraufbeschworen und das Töten möglich gemacht. Im zweiten Golfkrieg 1990 wurde zum Beispiel berichtet, dass irakische Soldaten in Kuwait Säuglinge aus den Brutkästen gerissen hätten. Wer tut sowas? Das können keine Menschen sein, die müssen wir bekämpfen! Diese Erzählungen spielten entsprechend eine grosse Rolle in der Entscheidung der USA, im Irak eine Intervention zu starten. Später hat sich jedoch herausgestellt, dass die Geschichte von einer amerikanischen PR-Agentur erfunden wurde. Die aus den Brutkästen gerissenen Babys hat es nie gegeben (siehe „Brutkastenlüge“ auf Wikipedia).
Krieg ist brutal, Krieg ist unmenschlich, im Krieg wird gelogen. Weshalb hören wir nicht damit auf? Weshalb wird Krieg in unseren Zeitungen gerechtfertigt? Weshalb spielen wir Krieg zu Hause an der Spielkonsole nach? Hat Krieg wirklich jemals zu Frieden geführt? Gehört Krieg wirklich zu uns, zum Leben?
„Mit Gewalt dient man nicht der Gerechtigkeit, mit Krieg dient man nicht dem Frieden, und mit dem Töten von Menschen dient man nicht dem Leben. (…) Der Weg in den Krieg ist psychologisch immer derselbe: In einer komplizierten geschichtlichen Situation vereinfacht man die Wirklichkeit in dem simplen Schema von Gut und Böse, dann ordnet man die Schuld einseitig einer Seite zu, und dann personifiziert man das Böse in einer einzigen Person. Die muss man dann bekämpfen wie Sankt Michael den Teufel.“
Eugen Drewermann, deutscher Theologe
Nur die Konfliktparteien können Frieden schaffen
Unbestritten entsteht Krieg aus dem Narrativ der Trennung und dem Dualismus von Gut und Böse. Gleichzeitig bestätigt Krieg dieses Narrativ der Trennung und den Dualismus auch fortwährend. Mit grossem Erstaunen habe ich etwa die Entwicklung im Ukraine-Krieg mitverfolgt und kann noch immer nicht nachvollziehen, weshalb sich hier niemand wirklich für Frieden eingesetzt hat. Als Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht in Deutschland ihr „Manifest für den Frieden“ lanciert haben, wurde ihnen vorgeworfen, sie würden für Russland Partei ergreifen. Auch der Friedensvorschlag von China wurde sofort als Parteinahme für Russland gewertet. Weshalb kann man nicht für den Frieden sein, ohne dass man damit automatisch für Putin ist? Bedeutet dies, dass in der westlichen Parteinahme für die Ukraine gar kein Frieden möglich ist? Oder geht es gar nicht darum, dass der Krieg aufhört, sondern dass man einfach auf der richtigen Seite ist? Und weshalb kann es nicht auch mehr als zwei Seiten geben? Kann man nicht auch gegen den Krieg sein, ohne dass man für Putin ist?
Es gibt Berichte, dass Putin mit Selenski über eine Einstellung der Kampfhandlungen verhandeln wollte, für Selenski kommt es aber nicht in Frage, mit Putin zu sprechen. Im Mai 2023 wurde Selenski an den G7-Gipfel in Hiroshima eingeladen, um einen „gerechten Frieden“ zu diskutieren, ohne dass Russland dabei war. Weshalb haben die G7 das Gefühl, sie könnten ohne Russland, ohne die andere Kriegspartei über Frieden sprechen? Und wie geht das zusammen, dass Selenski am G7-Gipfel von einer „ukrainischen Friedensformel“ gesprochen hat und gleichzeitig Kampfjets zugesprochen erhalten hat?
Für mich sind dies Zeichen, dass der Krieg fortgeführt werden soll, bis Russland besiegt ist, dass „der Westen“ der Meinung ist, dass Frieden nur über Krieg erreicht werden kann. Im Nahen Osten lässt sich erneut ähnliches beobachten, Israel sucht den Frieden über Krieg, über die totale Zerstörung der Hamas. Doch wird das jemals gelingen? Jedes im Krieg besiegte Volk lässt verletzte und traumatisierte Seelen zurück, Brüder, Schwestern, Söhne, Töchter, Ehemänner, Ehefrauen, Verwandte, Freunde der Gefallenen. Wie kann die Siegerpartei sicherstellen, dass deren Verletzungen nicht als Hass wieder aufflammen? Wie kann Frieden gelingen, wenn dafür so viele Leben zerstört werden?
Sowohl die Geschichte des Nahostkonfliktes als auch die Entstehung des Ukrainekrieges ist viel zu komplex, als dass irgendein Experte jemals verstehen könnte, was hier alles passiert ist. Uns werden natürlich immer wieder Erklärungsansätze in der Zeitung präsentiert, aber ich bin überzeugt: Kein Experte, kein Journalist, kein Politiker, kein Kriegsstratege, kein General, kein Präsident kann wirklich verstehen, weshalb es zu diesen Konflikten gekommen ist und wie man sie lösen könnte. Eine Lösung, echter Frieden, ist meiner Meinung nach nur möglich, wenn die betroffenen Menschen zusammenkommen. Denn nur sie kennen ihre eigene Geschichte, nur durch sie kann eine Lösung entstehen. Die betroffenen Menschen, die beiden Kriegsparteien müssen einander zuhören, das Leid, den Schmerz der anderen Partei anhören, anerkennen, nachfühlen, um gemeinsam einen Prozess der Heilung und der Vergebung starten zu können. Echter Frieden kann nur aus Verbundenheit entstehen, niemals aus Trennung. Aber wie soll das gehen, in welcher Form soll dieses Zusammenkommen der Kriegsparteien möglich sein?
Ein neuer/alter Zugang zur Friedensstiftung
Einen neuen resp. eigentlich ganz alten Zugang zur Friedensstiftung beschreibt die Juristin Kay Pranis in ihrem Buch “The Little Book of Circle Processes - A New/Old Approach to Peacemaking” resp. im Hauptwerk “Peacemaking Circles - From Crime to Community”. Sie erzählt, wie das Zusammenkommen in einem Kreis, um über wichtige Themen zu sprechen, in den tribalen Wurzeln der meisten Menschen eine wichtige Form gewesen sei. Diese Formen existieren noch bis heute und werden in indigenen Kulturen teilweise immer noch praktiziert. In den 1990er Jahren wurden diese Kreispraktiken wieder neu entdeckt und gefördert. Basierend auf dem alten Wissen der First Nation in den USA, haben sich Kreismethoden wieder ausgebreitet und auf der ganzen Welt langsam wieder Gehör gefunden. 2014 erschien die erste deutschsprachige Übersetzung des Buches “The Circle Way” als “Circle - Die Kraft des Kreises”. In meiner Praxis als Organisationsentwickler ist es bereits seit 10 Jahren normal, dass wir in Workshops und Seminaren in einem Stuhlkreis arbeiten. Könnte, was in der Organisationsentwicklung und in Sozialen Gemeinschaften längst Standard ist, nicht auch auf der Ebene der Nationen funktionieren? Natürlich ist “Circle” aber viel mehr als nur eine Form, wie die Stühle aufgestellt werden. Es ist primär eine Haltung, verbunden mit ganz klaren Werten und Praktiken.
Die Kreispraktik, und so auch der von Kay Pranis vorgestellte “Peacemaking Circle”, basiert auf der Annahme, dass alle Menschen ein universelles Bedürfnis haben, mit anderen Menschen auf eine gute Art in Verbindung zu sein. Die Form des Kreises verkörpert sinnbildlich, dass sich hier alle auf Augenhöhe begegnen können. Dabei spielen Werte wie Respekt, Ehrlichkeit, Demut, Mut, Inklusion, Empathie, Vertrauen und Vergebung eine wichtige Rolle. Der Kreispraktik unterliegen alte indigene Weisheiten, etwa dass alles im Universum miteinander verbunden ist und dass wir die anderen Menschen auf fundamentale Weise brauchen. Das mündet zum Beispiel in der Annahme, dass wir den Menschen, für den der Kreis einberufen wurde, genauso fest brauchen, wie er uns braucht.
Nun offenbart sich in diesen Grundannahmen und Werten über die Kreismethoden bereits, weshalb es ein schwerer Weg sein dürfte, Peacemaking Circles in der Friedensstiftung und Vermittlung zwischen Nationen oder grossen Bevölkerungsgruppen einzusetzen: Die meisten Nationen, die meisten Gesellschaften leben nicht nach diesen Grundsätzen - wie sollen sie nun plötzlich als Angegriffene mit Angreifern in einem Kreis sitzen und diesen empathisch zuhören können? Es bedarf sowohl kulturell als auch individuell einer Entwicklung auf der Ebene der Werte und der Grundannahmen, wenn Peacemaking Circles zwischen Konflikt- oder sogar Kriegsparteien eingesetzt werden sollen. Ich denke, dass wir aber nicht den Fehler machen dürfen, aus dem von uns aktuell gelebten Narrativ der Trennung eine Methode, welche dem Narrativ der Verbundenheit dient, zu verurteilen. Denn dass diese Methoden zur Friedensstiftung funktionieren würde, ist für mich unbestritten. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie wir Schritt für Schritt in diese Richtung kommen könnten.
Wie Peacemaking Circles wirken können
Ein guter Nährboden, um diese Form der Friedensarbeit nachhaltig aufzubauen, könnte sein, diese mit unseren Kindern zu üben. Im “Little Book of Circle Processes” wird ein schönes Beispiel geschildert, wie ein Peacemaking Circle Heilung bringen konnte, nachdem ein Schüler gedroht hatte, seine Schule anzuzünden. Als Ergebnis des Kreistreffens hat jener Schüler zugestimmt, sein Verhalten dahingehend anzupassen, dass er andere nicht mehr bedroht, nachdenkt bevor er spricht und von einer Situation, die ihn aufregt, wegläuft und die Emotionen runter kühlen lässt, um dann später das Thema in Ruhe zu besprechen. Seine Klassenkameraden wiederum haben zugestimmt, ihr Verhalten insofern anzupassen, dass sie netter zu ihm sind, keine Lügen mehr über ihn erzählen, ihn nicht mehr aufziehen, ihn im Unterricht unterstützen, ihm eine zweite Chance geben sowie nach der Schule mit ihm Basketball spielen. In einer früheren “Lösung” wurde der Schüler vom Pausenplatz verbannt, dies wurde nach dem Peacemaking Circle wieder aufgehoben. Er bekam eine zweite Chance und es hat funktioniert, alle haben sich an ihren Teil der Abmachung gehalten.
In diesem Beispiel zeigt sich nicht nur, welche Kraft ein Peacemaking Circle entfalten kann, sondern auch dass die vorherige Strategie, den fehlbaren Schüler vom Pausenplatz auszuschliessen, die Situation nicht gelöst, ja vielleicht sogar noch verschlimmert hatte. Wie soll nun ein Präsident, ein Minister, ein General als Erwachsener den Pfad der Vergebung beschreiten können, wenn er als Kind vom Pausenplatz ausgeschlossen wurde und nie etwas anderes gelernt hat, als Rache und “Gerechtigkeit”? Und andersherum: Wie soll ein Präsident, ein Minister, ein General nicht mit Vergebung reagieren können, wenn er bereits als Kind Vergebung und Heilung in Peacemaking Circles erlebt hat?
Ablauf eines Peacemaking Circles im Detail
Ein Circle versammelt die Teilnehmenden in einem Kreis und der Kreismitte kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Bei den allerersten Kreisversammlungen haben sich unsere Vorfahren um ein Feuer gesetzt und genau dieses Zentrum, welches die Gruppe zusammenhält und Energie spendet, wird auch in einem Circle inszeniert, in dem die Mitte bewusst physisch gestaltet wird. Dies kann etwas sein, das die Absichten und Ziele der Gruppe symbolisch darstellt (z.B. könnten Plakate mit Firmenwerten oder Fotos von Schülern in die Mitte gelegt werden) oder auch eine schöne Inszenierung mit Blumen oder einer Kerze kann diesen Zweck erfüllen. Die Kreisversammlung wird mit einem kurzen Ritual gestartet (z.B. ein Gedicht vorlesen, ein Lied hören oder auch nur ein Moment der Stille) und im Anschluss werden in der Gruppe Vereinbarungen getroffen, die die Arbeit im Kreis leiten sollen. Diese können z.B. wie folgt lauten (nach Christina Baldwin):
Was die Einzelnen im Kreis mitteilen, wird vertraulich behandelt und nicht nach aussen getragen.
Wir hören einander neugierig und mitfühlend zu und urteilen nicht.
Wir bitten um das, was wir brauchen und bieten das an, was wir können.
Wir einigen uns auf eine(n) „Guardian“ (Hüter, Hüterin). Aufgabe des „Guardian“ ist es, auf die Bedürfnisse, die Zeit und die Energie der Gruppe zu achten. Wir vereinbaren, auf ein Signal hin eine Pause einzulegen und um das Signal zu bitten, wenn wir das Bedürfnis nach einer Pause verspüren.
Der Kern von Peacemaking Circles bilden Rederunden, die mit einem Redeobjekt strukturiert werden. Das bedeutet, dass ein Objekt reihum im Kreis gereicht wird und nur die Person sprechen darf, die gerade das Redeobjekt in der Hand hält. Die anderen Teilnehmenden können einfach nur zuhören, ohne über eine Antwort nachdenken zu müssen. Es besteht keine Verpflichtung zum Sprechen, das Redeobjekt kann auch weitergereicht werden, ohne etwas zu sagen. Indem das Redeobjekt reihum im Kreis weitergereicht wird, entsteht im Gespräch eine Struktur, in der kein Hin und Her zwischen zwei Personen entstehen kann. An dieser Stelle bekommt erneut die Kreismitte grosse Bedeutung, da die Teilnehmenden durch das Redeobjekt eingeladen werden, zur Kreismitte zu sprechen, statt sich direkt an andere Personen zu wenden.
Das Erzählen von Geschichten (“Storytelling”) hat eine grosse Wichtigkeit für die Kreispraktik, da Geschichten Informationen auf eine Art und Weise transportieren können, welche die Zuhörenden öffnet. Die Erfahrung von jeder einzelnen Person im Kreis spielt eine Rolle und die Gruppe entwickelt sich nicht durch Ratschläge oder Expertise weiter, sondern über persönliche Geschichten von Kampf, Verzweiflung, Schmerz, Freude und Triumph. Durch das Teilen von persönlichen Geschichten kann Verbindung und eine gemeinsame Basis entstehen.
Ein Peacemaking Circle könnte also zum Beispiel wie folgt ablaufen:
Starten des Kreises mit einem kurzen Ritual
Gemeinsame Werte identifizieren und Vereinbarungen für den Kreis entwickeln
Einstieg über eine erste Runde (Check-in), z.B. zur Frage “Was hat dich dazu bewogen, an dieser Besprechung hier teilzunehmen?”
Zweite Runde: “Was brauchst du, um dich hier sicher zu fühlen?”
Dritte Runde: “Was ist deine Hoffnung für die Gruppe und für dich selbst in den nächsten Monaten?”
Vierte Runde: “Welche Gefühle löst die aktuelle Situation bei dir und bei deiner Familie aus?”
Fünfte Runde: “Was denkst du, was die Gruppe jetzt braucht, um einen Schritt weiterzukommen?”
Danach gemeinsam Bereiche für nächste Schritte identifizieren
Abmachungen treffen und Verantwortlichkeiten klären
Eine letzte Runde (Check-out), z.B. mit der Frage “Was möchtest du der Gruppe zum Abschluss von heute noch sagen?”
Schliessen des Kreises mit einem kurzen Ritual
Diese Schritte und die einzelnen Runden können auch auf mehrere Kreiszusammenkünfte aufgeteilt werden, in den meisten Fällen wird dies sogar Sinn machen. Wichtig ist an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass der Person, die den Kreis einberuft, eine ganz besondere Rolle zukommt. Diese wird meist “Keeper” genannt, zu Deutsch “Hüter” oder auch “Gastgeber”. Der Gastgeber muss unbedingt für einen ergebnisoffnen Raum sorgen, indem er in sich selber ergebnisoffen ist und nicht etwa das Ziel verfolgt, andere von einem bestimmten Standpunkt zu überzeugen oder deren Sichtweise ändern zu wollen. Die Qualität der Intention und die Art der Aufmerksamkeit, in der ein Gastgeber einen Kreis einlädt, ist entscheidend für die Qualität und das Gelingen des Dialogs.
Kreisform, Mitte, Ritual, Vereinbarungen, Runden, Redeobjekt, Storytelling, Gastgeber/Hüter - dies sind die zentralen Elemente für das Gelingen eines Peacemaking Circles.
Peacemaking Circles könnten Kriege verhindern
Kay Pranis erzählt in ihrem Buch ein Beispiel von einem Peacemaking Circle, in welchem sich das Opfer eines bewaffneten Überfalls wieder mit dem 17-jährigen Täter getroffen hat, der ihm eine Pistole an den Kopf gehalten hatte. Als Teilnehmende im Kreis waren sowohl die Familie des Opfers als auch die Familie des Täters sowie Freunde und Nachbarn anwesend. Bevor sich die beiden Familien begegnen konnten, wurden für beide Parteien separat vorbereitende Kreistreffen abgehalten. Im gemeinsamen Peacemaking Circle konnte das Opfer sein Trauma von der Tat ausdrücken und beschreiben, welchen Einfluss dies auf sein Leben hatte. Der Täter und seine Familie konnten ihr Bedauern und ihre Sorge um das Opfer ausdrücken. Die Nachbarn und Freunde konnten ihre Unterstützung für beide Familien zum Ausdruck bringen und die Hoffnung anmelden, dass die Nachbarschaft wieder zusammenfinden und gestärkt werden kann. Jede Person hatte die Gelegenheit zu sprechen, jede Person wurde angehört. Am Schluss gingen die beiden Familien aufeinander zu, gaben sich die Hand, nahmen sich teilweise sogar in den Arm und das Opfer sagte zum Täter: “Wenn du aus der Jugendstrafanstalt wieder entlassen wirst, dann würde ich dich gerne zum Mittagessen einladen.”
Natürlich dürfen wir uns nicht einbilden, dass seit mehreren Jahren wütende Kriege wie in der Ukraine oder seit Jahrzehnten schwelende Konflikte wie im Nahen Osten mit der Einberufung einer einzelnen Kreisversammlung beendet und der Konflikt so schnell gelöst, die Wunden so schnell geheilt werden können. Ähnlich wie im oben beschriebenen Beispiel bräuchte dies eine sorgfältige Vorbereitung und sicherlich eine Vielzahl von Kreistreffen, bis ein Durchbruch erzielt und ein Heilungsprozess gestartet werden könnte. Wenn wir uns aber vorstellen, dass wir immer alle Konflikte - sei es die Drohung, die Schule anzuzünden oder ein bewaffneter Raubüberfall - mit Peacemaking Circles behandeln würden, dann wird klar, dass dadurch frühzeitig eine Eskalationsspirale gebrochen werden könnte, bevor sich diese weiter aufbauen kann. Denn das Problem mit den grossen Kriegen und Konflikten in unserer Welt ist aus meiner Sicht, dass durch das Narrativ der Trennung, den Glauben an “Gut und Böse” und die Annahme, Gerechtigkeit schaffen zu müssen, die Konflikte erst recht noch weiter eskaliert werden. Ich vermisse sehnlichst die Kräfte, die deeskalierend wirken, die Verbindungen schaffen, die das Zuhören und das Verständnis für beide Seiten fördern und eine gemeinsame Basis für eine friedvolle Zukunft aufbauen. Zwischen der Ukraine und Russland wurde das bereits vor Jahren verpasst, zwischen dem “Westen” und Russland vor Jahrzehnten und zwischen den Palästinensern resp. der arabischen Welt und Israel wohl bereits vor beinahe einem Jahrhundert. Wenn wir aber heute beginnen, in Konflikten nicht mehr Gerechtigkeit schaffen zu wollen, sondern einander zuhören, die andere Sicht anerkennen und dadurch gemeinsame Lösungswege öffnen, können wir zukünftige Kriege verhindern.
Der Entscheid liegt bei uns
Was ich hier mit dem Peacemaking Circle als Lösung für den Frieden vorschlage, ist gewiss kein einfacher Weg. Wir können das nicht von heute auf morgen umsetzen, der Weg dahin wird lange und beschwerlich sein. Aber es ist ein Gegenentwurf zur Trennung, ein Gegenentwurf zum Krieg, ein Gegenentwurf zur Gewalt. Denn Gewalt erzeugt Gegengewalt und Krieg erzeugt noch mehr Krieg. Und Krieg bedeutet Tod. Das Sterben von vielen Männern, das Sterben vieler unbeteiligter Frauen und Kinder, das Sterben von Söhnen, von Brüdern, von Vätern, von Ehemännern, von Töchtern, von Schwestern, von Müttern, von Ehefrauen. Zurück bleibt Schmerz, Leid, Trauma. Wann in der Geschichte hat Krieg wirklich jemals Frieden gebracht?
Rutger Bregman hat vor ein paar Jahren mit “Im Grunde gut” ein wunderbares Buch geschrieben und ich glaube aus tiefstem Herzen, was er dort schreibt: Der Mensch ist im Grunde gut. Der Mensch ist nicht böse, schlecht oder egoistisch, er ist gut. Es gibt Studien, die zeigen, dass im zweiten Weltkrieg nur ca. 15-25 Prozent der amerikanischen Soldaten tatsächlich ihre Waffe abgefeuert haben. Diese Studien legen nahe, dass der Mensch nicht töten will. Früher war es Hollywood und heute ist es die Videospielindustrie, die uns weismachen will, dass Gewalt normal sei. Aber in der Realität ist Gewalt unglaublich schwierig. Menschen können Gewalt lernen, aber dabei werden sie meist selbst beschädigt. Wenn man jemanden tötet, tötet man auch etwas in sich selbst.
Ich finde, es sind genug Menschen im Krieg gestorben. Ich finde, es ist Zeit, dass wir uns als Menschheit neuen Formen zuwenden, wie wir Konflikte lösen können. Ich finde, es ist Zeit, dass wir uns gegen Krieg entscheiden. Ich finde, es ist Zeit, dass wir den Frieden wählen, dass wir Vergebung starten, dass wir aufhören, andere Menschen als böse zu betrachten, dass wir die persönliche Geschichte der anderen Menschen anhören, dass wir die Menschlichkeit darin erkennen, dass wir Teile von uns selbst darin erkennen, dass wir uns verbinden. Wir alle können uns entscheiden. Jeden Tag können wir uns neu dafür entscheiden.
Wie entscheidest du dich?
Gewagt, deine These. Ich sehe das Problem, dass sich zwei Lebenshaltungen unvereinbar gegenüberstehen: Hier die gelobte Demokratie mit hoher autonomer Freiheit und Mitbestimmung und da die Diktatur mit Macht und Kontrolle bei einzelnen Personen. Wenn diese eine Person so machthungrig ist, wird sie alles tun, wenn ihr kein Einhalt geboten wird. Anders gefragt: Wäre der deutsche Führer mit seiner kranken Haltung der Rasseneinheit seinerzeit durch Peacemaking-Circles gestoppt worden?