Mitlaufen mit der Natur
Was könnte das für unsere moderne Gesellschaft im Jahre 2023 bedeuten?

Ich sitze spätabends im Zug und lese im Buch von Bastian Barucker „Auf Spurensuche nach Natürlichkeit“, in welchem er unter anderem erzählt, wie er ein Jahr lang in der Wildnis gelebt hat. Ich bleibe hängen beim Ausdruck „Mitlaufen mit der Natur“. Er schreibt darüber, wie in der Natur ständig alles in Bewegung ist und wie er gelernt habe, die verschiedenen Zeichen zu lesen und mit der Natur mitzugehen. Sich den natürlichen Rhythmen anzupassen. Ich frage mich, was es wohl bedeutet, in einem zivilisierten Leben im Jahre 2023 diese Haltung zu leben. Was kann ich als Vorstadtmensch tun, um mit der Natur mitzulaufen? Wie gelingt mir das?
Mein Handy vibriert. Eine neue Nachricht. Ein alter Bekannter, er antwortet auf meine Frage, wie es ihm und seiner Familie denn so geht. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, erst vor ein paar Tagen ist wieder mal ein kleiner Austausch per Textnachricht entstanden. Er erzählt mir, wie streng die letzten zwei Jahre gewesen seien. Wie Job und Familie ihn und seine Frau fast aufgefressen und arg an die Grenze gebracht hätten. Wir haben mittlerweile auch zwei Kinder (2,5 Jahre und 5 Monate) und einige Leute haben mir schon gesagt, wie streng das dann werden würde oder wie streng die Kleinkindphase bei ihnen war. Bis jetzt fand ich es jedoch gar nicht so anstrengend - und ich traue mich manchmal fast nicht, das zu sagen, weil viele junge Eltern so eine strenge Zeit erleben. Ich sage mir dann jeweils, dass wir halt einfach Glück hatten bis jetzt und dass die strengen Zeiten dann schon noch kommen werden.
Aber eigentlich kann ich es mir fast nicht vorstellen, dass wir jemals so richtig an die Grenzen kommen werden als Familie. Denn ich denke mir, dass ich dann halt einfach eine Zeitlang weniger arbeite, wenn die Familie mehr Aufmerksamkeit braucht. Ich arbeite selbständig und kann mein Arbeitspensum selber festlegen. Und auch jederzeit selber anpassen. Bei meinem Bekannten lese ich heraus, dass es vor allem sein 80%-Job war - der eigentlich ein 100%-Pensum erfordert hätte - der die letzten zwei Jahre für ihn so streng gemacht hat. Ich frage mich, ob das vielleicht ein Muster aus der Natur sein könnte, das wir noch mehr integrieren könnten: Anzuerkennen, dass immer alles in Bewegung ist und dass unsere Aufmerksamkeit immer wieder neu verteilt werden muss. Das könnte vielleicht ein Teil davon sein, im Jahre 2023 „mit der Natur mitzulaufen“: Seine Aufmerksamkeit immer wieder neu dorthin zu lenken, wo sie gerade am stärksten gebraucht wird. Und das in einem “modernen Leben” vor allem zwischen Job und Familie, zwischen Erwerbsarbeit und Familienarbeit.
Einige werden jetzt bestimmt denken „Ja, das kann sich aber eben nicht jede/r leisten, schliesslich muss ich ja schauen, dass Geld reinkommt!“ Das kann ich natürlich gut nachvollziehen und ich bin mir auch bewusst, dass ich da in einer komfortablen Lage bin. Ich denke jedoch, diese Reaktion gibt uns gleichzeitig einen Hinweis darauf, dass wir als Gesellschaft durchaus hinterfragen könnten, ob Erwerbsarbeit in unserem System wirklich derart von Familienarbeit abgetrennt werden sollte. Und weshalb wir die Erwerbsarbeit praktisch über alles andere stellen. Und ob vielleicht Aufmerksamkeit (oder vielleicht besser: Zeit) nicht eine genauso wichtige - wenn nicht sogar noch wichtigere - Währung für uns darstellen könnte wie Geld. Gerade wenn man Kinder hat.
Daraus folgt für mich: Wir brauchen Arbeitsmodelle, die viel flexibler sind. Oder noch einen Schritt weiter: Wir brauchen flexible Zeitmodelle. Wo kann und möchte ich meine Zeit investieren? Am sinnvollsten wäre meiner Ansicht nach, wenn jeder Mensch über sein Zeitmodell selber frei entscheiden und es jederzeit wieder anpassen könnte. Denn ich denke, viel Stress entsteht dann, wenn man sich nicht anpassen kann und die fixen Räume zu eng werden. Und dadurch die Grenzen der Räume immer näher kommen. Ein „Mitlaufen mit der Natur“ stelle ich mir überhaupt nicht fix vor, das hat nichts mit engen Räumen oder Grenzen zu tun. Sondern eben primär mit Anpassung.
Dazu passt folgende Aussage von Bastian Barucker:
„Der westlich geprägte Mensch ist so stark daran gewöhnt, seine Umwelt zu manipulieren und zu dominieren, dass er den Königsweg eines ausgeglichenen Lebens vergessen hat: die Anpassung. Eine weitere, grundlegende Erkenntnis aus dem Leben in der Natur ist, dass nur durch eine bestmögliche Anpassung an ihre Rhythmen ein ‘gutes Leben’ möglich ist.“
Natürlich ist die Verteilung der Aufmerksamkeit oder Lebenszeit zwischen Familien- und Erwerbsarbeit nur ein Bereich von vielen, in welchem wir uns Anpassungsfähigkeit und Flexibilität bewahren oder neu schaffen könnten. Gerade bei jungen Eltern habe ich jedoch oft den Eindruck, dass Überlastung meistens daher kommt, dass sie zu viel arbeiten - oder aus dem Blickwinkel des Systems: zu viel arbeiten müssen.
Ist es nicht bemerkenswert, dass der Homo Sapiens ein Wirtschaftssystem erschaffen hat, unter dessen Druck so viele seiner Gattung leiden müssen? Wie würde unsere Gesellschaft aussehen, wenn wir das Mitlaufen mit der Natur, die ständige Anpassung an den Rhythmus des Lebens, wieder an erste Stelle setzen würden?
Danke für die schöne und auch sehr persönliche Beschreibung, wie ein Mitlaufen mit der Natur und ein Anpassen an den Rhythmus des Lebens aussehen könnte. Das sind sehr treffende Worte.
Hej hej Daniel
Vielen Dank für die wertvollen Texte.
Ich lese sie sehr gerne und sie regen mich zum Nachdenken an.
Herzliche Grüsse, Stefanie (aus der BMS :)